Zielgruppe: Alle – Starke Zivilgesellschaft für Demokratie und Europa

16. Oktober 2024: Von Evgenia Steinepreis, Kommunales Integrationszentrum, und Martin Leonhard Schmitt, EUROPE DIRECT, Kreis Steinfurt

Anders als viele denken, ist der Demokratiebegriff nicht notwendigerweise mit der Idee einer offenen Gesellschaft verbunden. Das zeigt sich historisch und in aktuellen Debatten und Entwicklungen – in Deutschland und europaweit.
Das Demokratieverständnis offener Gesellschaften gründet seine Legitimität nämlich nicht auf ab- und ausgrenzenden Mehrheitsentscheidungen. Es gründet auf integrativen Diskursen, die in ihren Zivilgesellschaften geführt werden und in denen Argumente vorgebracht, ausgetauscht und ausgehandelt werden. Das Demokratieverständnis offener Gesellschaften ist deshalb notwendig mit Voraussetzungen verbunden, die in den verfassungsrechtlichen Grundlagen unserer Gesellschaft festgehalten sind. Im Vertrag über die Europäische Union sind dies die Prinzipien der Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit, verbunden mit Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und der Gleichheit von Frauen und Männern (Art. 2 EUV).

Der radikale Wandel gesellschaftlicher Kommunikation durch soziale Medien und der teilweise Wegfall traditioneller zivilgesellschaftlicher Aushandlungsorte (wie bspw. Vereine und Kirchengemeinden) ist gerade auf kommunaler Ebene und im ländlichen Raum schwerwiegend. Hier finden politische Entscheidungen ihre unmittelbare Anschauung. Gleichzeitig erscheinen politische Entscheidungsträger meist so weit entfernt, dass eine Identifikation der eigenen Positionen und Argumente innerhalb der großen Debatten schwerfällt. Das macht Demokratieförderung zur sinnvollen Aufgabe von Kreisen, um kleine Kommunen im ländlichen Raum zu unterstützen und ab- und ausgrenzenden gesellschaftlichen Entwicklungen entgegenzuwirken.
Vor der Folie der genannten Voraussetzungen ist dies keine geringe Aufgabe. Treten öffentliche Verwaltungen - wie hier der Kreis Steinfurt - als Akteure der Demokratieförderung auf, verschärft sich die Herausforderung. Gemäß ihrem Auftrag findet sich hier nicht nur der „Worst Case” jeder Kommunikationsagentur, da die Frage nach der Zielgruppe nur mit „alle” beantwortet werden kann, auch darf keine Angriffsfläche innerhalb parteipolitischer Diskurse geboten werden. Die Stärkung zivilgesellschaftlichen, überparteilichen und dabei integrativen Engagements für Demokratie stellt deshalb den Weg dar, den der Kreis Steinfurt in der Demokratieförderung - unter Wahrung des Neutralitätsgebotes - einschlägt.
Als herausragende Akteure der Demokratieförderung sind für die öffentliche Verwaltung des Kreises Steinfurt das Kommunale Integrationszentrum und das beim Amt für Kultur, Tourismus und Heimatpflege des Kreises angesiedelte und von der Europäischen Kommission geförderte EUROPE DIRECT Zentrum zu nennen. Sie tragen den oben genannten Voraussetzungen offener Demokratien Rechnung: Durch die Schaffung integrativer Räume und Netzwerke, durch Veranstaltungen und umfassende politische Bildungsarbeit, durch kulturelle Sensibilisierung und eine europäische Perspektive wird der plurale und integrative Aspekt zivilgesellschaftlicher Räume gestärkt. Diesem liegt ein weiter und zugleich pluraler Kulturbegriff zugrunde, der sich gegen die Vorstellung einer Demokratie stellt, die sich durch Ab- und Ausgrenzung definiert.
In der täglichen Arbeit gehört hierzu die kreisweite Netzwerkarbeit zur Initiierung zivilgesellschaftlicher Projekte und nicht unwesentlich die erfolgreiche Akquise öffentlicher Mittel von Landes-, Bundes- und europäischer Ebene. Die so initiierten Projekte umfassen sowohl klassische Ansätze der Demokratiebildung als auch die Förderung kreativ-künstlerischer Räume des demokratischen Diskurses und Austauschs. Sie alle unterstützen die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts – ein Schwerpunktthema, dem Landrat Dr. Martin Sommer eine besondere Bedeutung zugeschrieben hat. Bei den Ansätzen des Kreises Steinfurt gehen politische Bildung und kulturelle Projekte deshalb Hand in Hand und erreichen auf diese Weise Akteure unterschiedlichster Hintergründe, was im Folgenden an vier Beispielen zur Demokratiebildung, zu Kulturangeboten, zu einer Aktion im Vorfeld der Europawahlen und an der Demokratiekonferenz des Kreises Steinfurt veranschaulicht werden soll.
Seit 2022 entstehen im Rahmen der beim Kommunalen Integrationszentrum angesiedelten „Partnerschaft für Demokratie”, gefördert durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, zahlreiche Projekte zur Stärkung demokratischer Strukturen. Eine für gelungene Demokratiebildung beispielhafte Initiative war das von Schülerinnen und Schülern selbstständig entwickelte Projekt „Jugend formt Gesellschaft“. In ihrem Projektprozess entschieden sie sich, während der Internationalen Wochen gegen Rassismus, Expertinnen und Experten zu Themen wie „Rechtsextremismus als gesellschaftliche Herausforderung“ und „Kritisches Weißsein und Privilegien“ einzuladen. Ihre Projektarbeit erfuhren die Schülerinnen und Schüler dabei als ein Beispiel demokratischer Selbstwirksamkeit.


Die Vertretung der Schülerschaft des Kopernikus-Gymnasiums Rheine, die den Projekttag „Jugend formt Gesellschaft” initiiert und geplant hat.
Quelle: Partnerschaft für Demokratie Kreis Steinfurt

Auf dem kulturellen Feld fand am Tag der Europawahlen eine dreistündige Live-Performance von zwei Studentinnen der Kunstakademie Münster statt, die sie im Kunstgewächshaus Laer inszenierten. Ganz anschaulich wurde hier auf die Herausforderungen und Strukturen gemeinschaftlicher Interaktion und die Entstehung neuer Möglichkeitsräume durch demokratische Aushandlungsprozesse und deren Voraussetzungen eingegangen. Die so entstandene Installation war über mehrere Wochen Teil des Ortsbildes und damit eine - teilweise irritierende - Intervention, die zum Nachdenken über demokratische Prozesse aufforderte.


Am Tag der Europawahlen griffen Sierra Diamond und Leya Wüllner in ihrer dreistündigen Performance „i wish this never ends (but it’s straining and i need rest)“ die demokratischen Aushandlungsprozesse offener Gesellschaften auf.
Quelle: Lea Klein

Die von der Europa-Union Steinfurt e. V. und EUROPE DIRECT Steinfurt initiierte „Europäische Frühstückspause“ zur Europawahl 2024 zielte darauf ab, Bürgerinnen und Bürger durch direkte Ansprache in ihrem Arbeitsumfeld zu erreichen und zur Teilnahme an der Europawahl zu motivieren. Im Fokus standen die europäische Integration und das Bewusstsein für die Bedeutung Europas im Alltag. Die von der Landesinitiative Europa-Schecks geförderte Aktion richtete sich auch an im Kreis wohnhafte rumänische Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter und nahm deren besondere Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Blick. Dabei wurde auf die Herausforderungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit und mögliche ausbeuterische Praktiken hingewiesen, während die Bedeutung der politischen Teilhabe als Teil eines politischen Gemeinwesens (Unionsbürgerschaft) und der Schutz europäischer Werte betont wurden.


Mit dem Verein „Aktion Würde und Gerechtigkeit e. V.” und dem Pfarrer der katholischen Kirche in Lengerich, Petter Kossen, wurden kleine Frühstückstaschen mit europäischen Spezialitäten und einem Aufruf zur Europawahl an rumänische Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter verteilt.
Quelle: EUROPE DIRECT Steinfurt

Zu zeigen, dass sich die großen gesellschaftlichen Entwicklungen vor Ort widerspiegeln, ist Ziel der jährlich stattfindenden Demokratiekonferenz. Im Mittelpunkt der bereits dritten Konferenz im Kreis Steinfurt stand in diesem Jahr der Blick auf die Demokratie durch die Auseinandersetzung mit dem Thema Antisemitismus.


Landrat Dr. Martin Sommer schreibt dem gesellschaftlichen Zusammenhalt als eines der von ihm gesetzten Schwerpunktthemen besondere Bedeutung zu.
Quelle: Kreis Steinfurt

Landrat Dr. Martin Sommer betonte die verschiedenen Ausprägungen von Fremdenfeindlichkeit: „Bewusst ist uns allen, dass Antisemitismus und Rechtsextremismus zusammenhängen. Antisemitismus gibt es aber auch von links, es gibt den importierten Antisemitismus und den Islamismus.“ Namhafte Expertinnen und Experten beleuchteten bei der Demokratiekonferenz die Rolle sozialer Medien als Plattform für Hass, mit dem eindringlichen Appell, diese zurückzuerobern, um die Demokratie zu schützen und deren integrativen Kern zu verteidigen.  Psychologe und Autor Ahmad Mansour mahnte antisemitische Strukturen in Deutschland an, die nicht nur das Denken und Handeln Rechtsradikaler oder religiös motivierter Islamisten beeinflussten, sondern auch in der bürgerlichen Gesellschaft wahrzunehmen seien. In Workshops vertieften die Teilnehmenden ihr Wissen und diskutierten konkrete Handlungsmöglichkeiten. Ein bewegender Bericht einer jüdischen Geflüchteten sowie die Perspektive eines ehemaligen Neonazis machten deutlich, wie wichtig es ist, Radikalisierungsmechanismen zu erkennen und entschieden gegen Antisemitismus vorzugehen. Die Kreispolizei berichtete über lokale Vorfälle und betonte die Notwendigkeit der engen Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Akteuren sowie interkulturellen und religiösen Gemeinschaften. Die Konferenz veranschaulicht so, wie lokale Initiativen zur Demokratieförderung beitragen, indem sie kommunale Bemühungen mit drängenden gesellschaftlichen Debatten verknüpfen. Dies gibt die Möglichkeit, sich in den großen Debatten um die Zukunft Europas und der Welt wiederzufinden und die lebensweltlichen Erfahrungen vor Ort als deren Teil zu begreifen.


Ahmad Mansour gab mit seinem Impulsvortrag zum Thema „Antisemitismus in unserer Gesellschaft” einen Einblick in aktuelle Entwicklungen.
Quelle: Dorothea Böing / Kreis Steinfurt

In einer Zeit, in der Verschwörungserzählungen und vereinfachte Lösungen für komplexe gesellschaftliche Herausforderungen immer mehr Menschen anziehen, setzt der Kreis Steinfurt gezielt Impulse für die Stärkung der integrativen Kraft demokratischer Prozesse. Der Demokratiebegriff wird damit positiv besetzt und verwehrt sich ab- und ausgrenzenden Debatten. So bedeutet die Verteidigung und Förderung von Demokratie die Stärkung der integrativen Diskurse ihrer Zivilgesellschaft.

Evgenia Steinepreis
Quelle: Kreis Steinfurt
Martin Leonhard Schmitt