Wo Wald wieder Wildnis sein darf - erstes Wildnisentwicklungsgebiet im Kreis Borken
Die Stiftung Kulturlandschaft Kreis Borken hat eine ihrer Waldflächen in der Gemeinde Heiden im Süden des Kreises Borken und mitten im Naturpark Hohe Mark mit einer Größe von 78 ha als Wildnisentwicklungsgebiet 2019 ausweisen lassen. Dadurch können in den Wäldern die natürlichen Prozesse wieder ungestört ablaufen und die Natur darf sich frei entfalten. Die Stiftung leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Sicherung von Gen-Ressourcen, für die Biodiversität und den Klimaschutz.
Die Stiftung Kulturlandschaft Kreis Borken wurde 2004 gegründet mit dem Zweck, den Naturschutz und die Landschaftspflege zu fördern durch Erhaltung und Entwicklung der historisch gewachsenen Kulturlandschaft und dem Aufbau eines Biotopverbundes. Dazu kauft die Stiftung Flächen, wertet sie ökologisch im Sinne eines Ökokontos auf und veräußert diesen Mehrwert an Eingriffsverursacher als Kompensation. Durch den zielgenauen Flächenerwerb in naturschutzfachlich besonders wertvollen Gebieten und die an den Naturschutzzielen orientierte bestmögliche Optimierung der Flächen ist eine hocheffiziente und flächenschonende Kompensation garantiert. Gleichzeitig werden der Naturschutz und der Biotopverbund bestmöglich gefördert und entwickelt.
Die Geschichte des Kranenmeers
Das Kranenmeer ist ein Heideweiher, in dessen ehemals durch offene Heideflächen geprägten Umgebung Menschen vor etwa 200 bis 300 Jahren damit begannen, die Venngebiete nutzbar zu machen. Zuletzt wurden die Flächen Anfang des 20. Jahrhunderts mit Kiefern aufgeforstet, die als Grubenholz für den Bergbau im nahgelegenen Ruhrgebiet dienten.
Infolge der Aufgabe des Bergbaus konnte der Kreis Borken einen größeren Besitz am Kranenmeer von der Ruhrkohle AG erwerben. Mit Gründung der Stiftung Kulturlandschaft wurden diese Flächen am Kranenmeer vom Kreis an die Stiftung übertragen. Damit begann der Umbau der monotonen Kiefernwälder durch Freistellung und natürliche Entwicklung zu Laubwäldern, die der natürlichen Waldgesellschaft entsprechen oder sich dahin entwickeln sollen.
Naturnaher Eichen-Birkenwald mit Sand-Birke (Betula pendula) und Moor-Birke (Betula pubescens).
Quelle: Kreis Borken
Eines der ältesten Naturschutzgebiete
Das engere Gebiet um den Heideweiher Kranenmeer wurde bereits in den 1950er Jahren als eines der ältesten Naturschutzgebiete im Kreis Borken ausgewiesen. In den Jahren 1994 und 2014 wurde dieses Naturschutzgebiet erweitert und zuletzt durch den Landschaftsplan Heiden in seiner heutigen Kulisse festgesetzt. Aufgrund der Besonderheit des Heideweihers und einiger dort vorkommenden Pflanzen und Tiere, wie etwa das Schwimmende Froschkraut, das Sumpf-Veilchen, der Moorfrosch oder der Kammmolch wurde das Gebiet Anfang der 2000er Jahre als FFH-Gebiet (Flora-Fauna-Habitat) und damit als Teil des europäischen Schutzgebietsnetzes NATURA 2000 an die EU in Brüssel gemeldet.
Wildnis und Wildnisentwicklungsgebiet
Die primäre, ursprüngliche Wildnis, die als ausgedehnte Naturlandschaft mit ursprünglicher Flora und Fauna vorkam, ist heute in Mitteleuropa kaum noch vorhanden. Im Gegensatz zur ursprünglichen Wildnis werden unter Wildgebieten kleinere (100 Hektar) und fragmentierte Lebensräume verstanden, in denen die natürlichen Bedingungen entweder teilweise oder überwiegend verändert wurden. Solche „sekundäre Wildnis“ soll in sogenannten Wildnisentwicklungsgebieten durch das Zulassen natürlicher Prozesse entstehen. In einem Wildnisentwicklungsgebiet darf sich die Natur also frei entfalten: Sie darf sprichwörtlich machen was sie will. Diese Gebiete stehen unter Prozessschutz, d.h. menschliche Eingriffe werden dort so weit wie möglich vermieden, es dürfen wieder die natürlichen Entwicklungen ungesteuert ablaufen.
Liegendes Totholz im naturnahen Eichen-Birkenwaldwald mit Kiefern
Quelle: Kreis Borken
Nach Schätzungen des Bundesamtes für Naturschutz sind derzeit gerade einmal 0,6 % der Landesfläche der natürlichen Eigendynamik überlassen. Der Rest des Landes, über 99 %, wird flächendeckend genutzt, bewirtschaftet, gemanagt und gepflegt.
Die Einrichtung von Wildnisentwicklungsgebieten dient dazu, den Pflanzen und Tierarten eine Überlebenschance zu geben, die an natürliche Entwicklungsprozesse gebunden sind. Gleichfalls sollen auch die Bodenprozesse ungehindert stattfinden können. Deshalb hat die Stiftung Kulturlandschaft entschieden, ihre Waldflächen am Kranenmeer als Wildnisentwicklungsgebiet einzurichten. Nach einer fachlichen Prüfung durch das Landesamt für Natur, Umwelt- und Verbraucherschutz (LANUV) wurden die Flächen 2019 mit der Bekanntmachung im Ministerialblatt des Ministeriums für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz (MULNV) als Wildnisentwicklungsgebiet ausgewiesen.
Förderung der Biodiversität
Für den Schutz von Wildnis und Wildnisentwicklungsgebieten gibt es viele Gründe, die vom Erhalt der biologischen Vielfalt über Bildungs- und Erlebnisaspekten bis zu Forschungsaspekten reichen. Eine Erkenntnis aus dem Nationalpark Bayerischer Wald ist, dass genutzte Wälder nicht in der Lage sind, die gesamte Vielfalt der natürlichen Wälder bereitzustellen. Prozessschutzflächen sind eine langfristige Versicherung gegen den Artenschwund. Sie stellen darüber hinaus einen bestmöglichen Schutz von Böden dar, da es keine Veränderungen mehr durch Befahren, Verdichtung, Umlagerung u.a. gibt. Wildnisgebiete tragen zum Erhalt von Gen-Ressourcen bei, da es keine menschliche Auslese gibt.
Liegendes Totholz im naturnahen Birken-Eichen-Mischwald mit Stiel-Eiche (Quercus robur) und Sand-Birke (Betula pendula)
Quelle: Dr. Ingo Hetzel, LANUV
Die Förderung der biologischen Vielfalt ist ein besonders wichtiger Aspekt beim Wildnisentwicklungsgebiet Kranenmeer. In den herkömmlich bewirtschafteten Wäldern, die den größten Teil der Waldflächen im Kreis Borken ausmachen, fehlen die besonders artenreichen Alters- und Vergreisungphasen innerhalb der natürlichen Waldzyklen. Die Bäume im Wald erreichen ihr mittleres Höchstalter nicht, da die forstliche Nutzung viel früher erfolgt. So kann z.B. die Rotbuche ein Alter von 300 Jahren erreichen, wird aber i. d. R. spätestens mit 150 Jahren geerntet mit den entsprechend hohen Auswirkungen auf den Artenreichtum. Diese Artenvielfalt ist dabei für das menschliche Auge nicht unbedingt erkennbar. Sie ist oft im Verborgenen und erstreckt sich über alle Stockwerke des Waldes, reicht vom Boden bis in die obersten Baumwipfel.
Von ganz besonderer Bedeutung sind dabei auch die Zerfallsphasen der Gehölze bis hin zum Totholz. Durch die Einstellung der forstlichen Nutzung in den Wäldern am Kranenmeer können sich wieder alte bis uralte Wälder entwickeln, die neben ihren positiven Wirkungen für die Artenvielfalt auch einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Wälder, die alt werden dürfen speichern Kohlenstoff in der lebenden sowie toten Biomasse. Da nicht nur die Menge des gebundenen Kohlenstoffs, sondern auch die Bindungsrate in Bäumen mit deren Alter wächst, ist es wichtig, solche Ökosysteme unter einen langfristigen Schutz zustellen.
Maßnahme für künftige Generationen
Diese Prozesse brauchen Zeiträume, die über die Generation eines Menschen lange hinausgehen. Deshalb ist hier in einer anderen, ungewohnten Zeitdimension zu rechnen: richtig erlebbar wird das Wildnisentwicklungsgebiet Kranenmeer erst von zukünftigen Generationen.
Das Gebiet darf auf seinen vorhandenen Wegen betreten werden und die Verkehrssicherung in der Nähe von Wegen und Straßen bleibt weiterhin bestehen. Auch die Jagdausübung ist zulässig. Ausgewählte Optimierungsmaßnahmen, - wie die Entnahme nicht lebensraumtypischer Gehölze - sind in den nächsten Jahren noch erlaubt, nicht jedoch die forstliche Nutzung.
Umweltbildung im Naturpark Hohe Mark
Flyer zum Wildnisentwicklungsgebiet.
Quelle: Kreis Borken
Mitten im Naturpark Hohe Mark gelegen hat die Stiftung Kulturlandschaft Kreis Borken mit dem Wildnisentwicklungsgebiet nicht nur den Naturschutz und die Biodiversität im Kreis Borken deutlich gesteigert, sondern auch einen besonderen Ort der Umweltbildung geschaffen. Durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit mit fachkundigen Führungen wird die Idee und die Bedeutung von Flächen, auf denen natürliche Entwicklungsprozesse ablaufen können, in die Bevölkerung transportiert.
Edith Gülker Quelle: Kreis Borken |
Stefan Kranz |