Regionalgeschichte im digitalen Zeitalter - Das „Zeitspuren“- Projekt im Kreis Siegen-Wittgenstein

19. März 2019: Von Dieter Pfau, freiberuflicher Historiker mit Schwerpunkt südwestfälische Geschichte, und Elisabeth Strautz, Historikerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Kreisarchivs Siegen-Wittgenstein
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Umfangreichere Forschungen zur Stadt- und Kreisgeschichte werden meist anlässlich runder Jubiläen auf den Weg gebracht. Beim aktuellen Forschungs- und Buchprojekt „Zeitspuren in Siegerland und Wittgenstein“ war es das 200-jährige Bestehen der rheinisch-westfälischen Landkreise. Das auf zwei Teilbände konzipierte Buch, das Ende 2020 erscheinen wird, behandelt das 19. Jahrhundert unter der Schwerpunktsetzung industrielle Entwicklung und Basisdemokratisierung. Die Bearbeitung liegt in Händen des Historikers Dieter Pfau (Altkreis Siegen) und der Historikerin Elisabeth Strautz (Altkreis Wittgenstein). Ein wichtiger Teil ihrer Aufgabe besteht darin, die Entwicklung beider Kreise unter der Perspektive wechselseitiger nachbarschaftlicher Beziehungen in einer historischen Interpretation zusammenzuführen.

Entwicklung der „Zeitspuren“-Buchreihe


Buchreihe „Zeitspuren
Quelle: Kreis Siegen-Wittgenstein

 Die Bände zum 19. Jahrhundert ergänzen die 2010 mit dem Buch zum Früh- und Hochmittelalter (750-1250) begonnene Buchreiche „Zeitspuren in Siegerland und Wittgenstein“ von Dieter Pfau. Deren Anliegen ist es, regionale Geschichte in ansprechender Form und Erzählweise einem größeren Leserkreis zu vermitteln. Die Buchreihe ist im Großformat mit farbigem Layout konzipiert, reich bebildert, hochwertig gedruckt und ausgestattet. Der Rezensent des Magazins Westfalenspiegel (2010) lobte Autor und Herausgeber gleichermaßen. Der Autor habe es verstanden, die komplexen Prozesse früh- und hochmittelalterlicher Herrschaftsbildung „anschaulich und allgemeinverständlich zu beschreiben“. Der Kreis Siegen-Wittgenstein und der Heimatbund Siegerland-Wittgenstein e.V. hätten sich verdient gemacht, indem sie Geschichte als Gemeinbesitz betrachteten: „Sie gehört den Bürgern, und diese haben ein Recht darauf, dass sie ihnen sinnhaft vermittelt wird.“ Gut gewählte Abbildungen würden die Darstellung auch visuell erfahrbar machen. Der Rezensent der Zeitschrift Archivpflege in Westfalen (2011) pflichtete dem bei. Das Werk besteche „durch seine opulente bildliche Ausstattung“, dem breiten historischen Lesepublikum, an das es gerichtet sei, könne „die Anschaffung nur empfohlen werden“.
Wieweit sich der Kreis Siegen-Wittgenstein mit über 100 Heimatvereinen und mehr als 70 museal eingerichteten Heimatstuben in Bezug auf Geschichtslandschaft und Geschichtskultur von anderen Kreisen in Nordrhein-Westfalen unterscheidet, ist nicht bekannt. Das erste Buch der „Zeitspuren“-Buchreihe jedenfalls hat mit mehr als 2.200 Exemplaren einen großen Zuspruch gefunden, in Buchhändlerkreisen gilt der Band als „regionaler Bestseller“. Dass der Folgeband erst acht Jahre später in Angriff genommen wird, hat hauptsächlich finanzielle Gründe. Denn über die Einnahmen aus dem Verkauf des Buches lässt sich – bei einem am Kunden orientierten Marktpreis von 39 € – zwar der Druck finanzieren, aber nicht der erforderliche Forschungsaufwand. Wie die meisten Kulturangebote benötigt solide regionalgeschichtliche Forschung eine zusätzliche öffentliche und private Förderung. Daher unterstützt der Kreis Siegen-Wittgenstein das Projekt zu einem Drittel, der Hauptanteil geht aber auf private Spender zurück. Der Kreistag stimmte dem Buchprojekt im Jubiläumsjahr „200 Jahre Kreise Siegen und Wittgenstein“ zu. Das Buch werde helfen zu erklären, so Landrat Andreas Müller, „wer wir sind, woher wir kommen und warum wir Siegerländer und Wittgensteiner so ticken, wie wir ticken“. Für die überwiegend aus der heimischen Wirtschaft stammenden privaten Spender ist auschlaggebend, dass im Buch die Industrialisierung behandelt wird. Für dieses Thema konnte Klaus Vetter, Ehrenpräsident der IHK und selbst sehr an der heimischen Geschichte interessiert, viele Spender interessieren und gewinnen. Klaus Gräbener, Geschäftsführer der IHK, begründet das Engagement von Seiten der Wirtschaft mit einem anschaulichen Bild: „Wenn man wissen will, warum es den Monte Schlacko oder so viele Löcher in unseren Bergen gibt, dann braucht man Kenntnisse davon, wie sich die Region entwickelt hat.“

Neue Erkenntnisse zur Regionalgeschichte


Die Schlackenhalde der Bremer Hütte in Siegen-Geisweid in den 1920er Jahren.
Quelle: Privat

Der Siegener Monte Schlacko ist keine einzigartige Erscheinung. Allein in Nordrhein-Westfalen, in Bottrop, Duisburg und Oberhausen, gibt es (mindestens) drei weitere Berge gleichen Namens, auch das Saarland hat seinen Monte Schlacko. In diesem Fall handelt sich um die künstlich aufgeschüttete Schlackenhalde der 1873 von hanseatischen Kaufleuten finanzierten Bremer Hütte, die mit der Zeit zum markanten Wahrzeichen der modernen Siegerländer Wirtschaftsgeschichte wurde. Die vormoderne Eisengewinnung und Eisenverarbeitung in der Umgebung von Siegen reicht bis in die Latènezeit zurück, die erste urkundliche Erwähnung einer Eisenerzgrube erfolgte im Jahr 1298, im Jahr 1415 wurden 25 Eisenhütten gezählt. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, als der Aufstieg des Ruhrgebiets gerade erst begann, zählte das Siegerland zu den bedeutendsten Eisenregionen Preußens und Deutschlands. Nach der 1861 erfolgten Anbindung an das Eisenbahnnetz setzte auch hier ein rasanter Industrialisierungsprozess ein, in dessen Verlauf sich jedoch die heimische Eisenindustrie infolge der schlechteren Verkehrsanbindung national und international als nicht ausreichend konkurrenzfähig erwies. Die Region, die mit hochwertigen Spezialprodukten wie dem Spiegeleisen weiterhin erfolgreich war, wurde allmählich zum Eisenerzlieferanten für günstiger gelegene Produktionsstandorte herabgestuft. Die überwiegend mittelständische Industrie des Siegerlandes fand ihre Nischen auf Dauer in der Spezialisierung im Walzenguss, der Blechwalz- und der Maschinenbausparte.
Der Nachbarkreis Wittgenstein, diese Erkenntnis ist bei der Durchsicht bislang nicht bearbeiteter Quellen im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin bestätigt und vertieft worden, war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts das ärmste, wirtschaftlich am wenigsten entwickelte Gebiet in der gesamten Provinz Westfalen. Immer wieder führten soziale und wirtschaftliche Probleme zu regelrechten Auswanderungswellen. Im Unterschied zum Kreis Siegen verfügte es mit Angehörigen der Fürstenfamilie zwar über eine unmittelbare Vertretung im Preußischen Herrenhaus, aber die nur langsam vollzogene Ablösung traditioneller Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse stellte sich bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte als erhebliche Belastung dar. Die überwiegend im fürstlichen Besitz befindlichen Wälder waren die wertvollste natürliche Ressource. Wer würde vermuten, dass ein beträchtlicher Teil der um 1900 auf dem Gebiet des Deutschen Reiches aufgestellten Telegrafen- und Telefonmasten aus den Wittgensteiner Wäldern stammte? Doch die allerwichtigste Ressource waren die Menschen selber, die zu Hunderten Wanderhandel mit hölzernen Haushaltswaren betrieben und zu Tausenden als Wander- oder Gastarbeiter in den benachbarten Kreis Siegen, nach Hessen, selbst bis ins Ruhrrevier zogen. Erst die Anbindung an das Eisenbahnnetz in den 1880er Jahren ermöglichte eine dauerhafte Ansiedlung größerer Industriebetriebe in Berleburg und Laasphe.
Zur Wirtschafts- und Industriegeschichte besonders des Siegerlands liegen zahlreiche Studien größtenteils älteren Datums vor. Gleiches gilt für die verschiedensten Themen der Geschichte beider Kreise im 19. Jahrhundert, die sich den Perspektiven von Sozial-, Politik- und Kulturgeschichte zuordnen lassen. Die regionalhistorische Forschung hat zwar eine große Zahl von disparaten Buch- und Aufsatzveröffentlichungen zu den unterschiedlichsten Themen hervorgebracht. Es fehlt aber, und damit steht der Kreis Siegen-Wittgenstein nicht alleine da, an einer diese Vielzahl von unverbunden nebeneinanderstehenden Einzelaspekten zusammenführenden historischen Interpretation, die der heutigen Zeit angemessen ist.

Die „Zeitspuren“-Website


Die Website des Buch- und Forschungsprojekts „Zeitspuren in Siegerland und Wittgenstein“.
Quelle: Kreis Siegen Wittgenstein

Mit Blick auf die Geschichtsvermittlung kann eine der heutigen Zeit angemessene historische Interpretation nicht mehr darauf verzichten, das „alte“ Buch mit dem „neuen“ Internet zu verbinden. Das Internet kann zwar den ästhetischen Reiz und das mit haptischer Erfahrung gepaarte Vergnügen beim Lesen eines gut gemachten Buches nicht ersetzen. Doch historische Landkarten, Lithografien, Gemälde und auch Fotografien bieten bei stufenloser Vergrößerung der digitalen Reproduktion am Bildschirm meist mehr Details, während die spannende und anschauliche Erzählung im Buch die Illustration in ihren Entstehungskontext einbettet. Das ist der eine Grund, warum die Buchreihe „Zeitspuren“ von der Webpräsentation www.zeitspuren-siwi.de begleitet wird. Unter dem Menüpunkt „Ereignistafel“ werden neben grundlegenden Informationen zum Projekt weitere Staffeln mit Quellen und Dokumenten zur Geschichte der beiden Kreise im 19. Jahrhundert veröffentlicht. Ende 2020 wird die gesamte Präsentation auf das veröffentlichte Buch hin angepasst und neu gestaltet.
Der andere Grund für die Erstellung und regelmäßigen Erneuerung der Website sind die interaktiven Synergien, die sich aus dem Zusammenspiel von Buch und Internet ergeben. Unter der Voraussetzung, dass nur Themen des 19. Jahrhunderts einbezogen werden, wird den zahlreichen Heimat- und Geschichtsvereinen der Region angeboten, die Zeitspuren-Präsentation mit Themen aus der Geschichte ihres Ortes zu ergänzen. Diese in der 2. Staffel erprobte Form der Kooperation wird ab der 3. Staffel regelmäßig erfolgen. Von der mit wachsender Vernetzung steigenden Bekanntheit der Website profitieren über entsprechende Verlinkungen auch die Kooperationspartner. Darüber hinaus bietet der von Kreisarchivar Thomas Wolf betreute, seit 2012 aktive Blog www.siwiarchiv.de die Möglichkeit, über Themen der Ereignistafel in den interaktiven Dialog einzutreten. Dies ist bereits bei zwei Einzelthemen geschehen, in einem Fall hat sich daraus ein Neueintrag in der Wikipedia-Enzyklopädie ergeben (https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Collins_Banfield).