Reformbedarf in der amtlichen Lebensmittelüberwachung? – Was denkt die Lebensmittelwirtschaft?

14. Dezember 2021: Von Dr. Marcus Girnau, Stellvertretender Hauptgeschäftsführer Lebensmittelverband Deutschland, Berlin

Lebensmittelsicherheit und Lebensmittelqualität haben in Deutschland und der Europäischen Union einen sehr hohen Standard erreicht. Dennoch und gerade deshalb bleibt die Gewährleistung dieses Niveaus eine permanente Herausforderung für die Lebensmittelwirtschaft, aber auch für den Gesetzgeber und die amtliche Lebensmittelüberwachung. Auch und gerade in der aktuellen COVID-19-Pandemie hat sich die Lebensmittelwirtschaft zudem als leistungsfähig sowie krisenbeständig erwiesen und damit einen bedeutsamen Beitrag zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln in Deutschland geleistet, ohne dass dabei Einbußen bei den Standards zu beobachten waren.

Primärverantwortung der Lebensmittelwirtschaft
An erster Stelle steht die Lebensmittelwirtschaft zur Aufrechterhaltung der hohen Standards in der Pflicht, da sie nach den europaweit geltenden lebensmittelrechtlichen Vorgaben die Primärverantwortung für die Gewährleistung der Rechtskonformität und der Sicherheit ihrer Produkte trägt. Der nur den Lebensmittelunternehmern unmittelbar mögliche Zugriff auf ihre Produktions- und Vermarktungsprozesse und ihre wirksamen, systematischen Eigenkontrollen bilden das Fundament für die Sicherheit, die gesundheitliche Unbedenklichkeit und die flächendeckende Vorsorge im Verbraucherschutz. Dies gilt im Übrigen unabhängig von der Betriebsgröße.

Eigenkontrollen und private Audits
Durch eine Vielzahl komplexer qualitätssichernder Maßnahmen setzt die Lebensmittelwirtschaft ihre Eigenverantwortung in der täglichen Unternehmenspraxis um. Dabei werden die bestehenden Systeme aufgrund stetig wachsender rechtlicher Anforderungen, der Übernahme internationaler Standards sowie unternehmenseigener Qualitätsanforderungen ständig weiterentwickelt. Dies gilt auch und gerade für Unternehmen, die im überregionalen oder europäischen bzw. internationalen Wettbewerb stehen. „Eigenkontrollen“ umfassen sowohl Aufgaben der Festlegung und Steuerung spezifischer Prozesse als auch die Aufgaben der Beprobung und Untersuchung. Hierbei geht der Umfang der chemisch-analytischen oder mikrobiologischen Untersuchungen von Lebensmitteln und Rohstoffen auf unterschiedlichste Parameter durch die oder im Auftrag der Lebensmittelunternehmer im Rahmen der Eigenkontrollen weit über die Anzahl der behördlichen Untersuchungen hinaus.
Für Lebensmittelunternehmen folgt aus der höheren Gewichtung von Irreführungs- und Food Fraud-Aspekten im Rahmen der amtlichen Betriebskontrollen nach der EU-Kontrollverordnung 2017/625 überdies die Notwendigkeit einer stärkeren präventiven Befassung mit der Evaluierung möglicher Food Fraud-Risiken in der eigenen Lieferkette. Während große, multinationale Unternehmen oft bereits neben Food Safety und Food Defence eigenständige Food Fraud-Präventionsprozesse etabliert haben, ist es kleineren und mittleren Unternehmen auch möglich, die bestehenden QS-Systeme um spezifische Food Fraud-Aspekte auf der Basis einer präventiven „Food Fraud – HACCP“- Bewertung zu ergänzen. Hilfreich ist in jedem Falle eine Schärfung des sog. „issue monitoring“, d.h. eine regelmäßige Beobachtung, Analyse und Bewertung unternehmensrelevanter Marktfaktoren.
Festzuhalten ist, dass die Funktionsfähigkeit der betrieblichen Eigenkontrollen im originären, eigenen Interesse der Unternehmen liegt, da Defizite in diesem Bereich oder nichtkonforme Produkte neben den straf- bzw. bußgeldrechtlichen Sanktionen erhebliche weitere materielle und ideelle Schadensfolgen (z.B. Imageschäden) für die Unternehmen nach sich ziehen. Ergänzend zu den betrieblichen Eigenkontrollen unterstellen sich die Unternehmen der Lebensmittelwirtschaft überwiegend einer weiteren zweiten Kontrollstufe durch externe, unabhängige Auditoren auf der Grundlage privatrechtlicher Standards der Lebensmittelkette (Bsp.: QS – Qualität und Sicherheit, IFS, BRC, GlobalGAP). Durch diese Maßnahmen wird von Seiten der Wirtschaft eine zusätzliche Kontrollebene eingeführt, die neben der Kontrolle von spezifizierten Qualitätsanforderungen auch der Gewährleistung der gesundheitlichen Unbedenklichkeit der Lebensmittel zu Gute kommt.

Amtliche Lebensmittelüberwachung als „Kontrolle der Kontrolle“
Die Überprüfung der Maßnahmen der Eigenkontrolle und die Bewertung ihrer Wirksamkeit erfolgen dagegen durch die staatliche Ebene und sind als ergänzende „Kontrolle der Kontrolle“ durch die amtliche Lebensmittelüberwachung unverzichtbar. Dabei sind eine hoch qualifizierte, effizient arbeitende und gut ausgestattete amtliche Lebensmittelüberwachung, gemeinsame Überwachungsstandards und ein bundes- sowie EU-weit einheitlicher Vollzug des Lebensmittelrechts für die Lebensmittelwirtschaft unerlässlich. In diesem Zusammenhang ist vor dem Hintergrund des europäischen Binnenmarktes sowie des zunehmenden weltweiten Handels mit Lebensmitteln, der technischen Entwicklung und der Komplexität von betrieblichen Eigenkontrollsystemen eine interdisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb der amtlichen Überwachung und eine Erhöhung der zur Verfügung stehenden Ressourcen wünschenswert. Mit Blick auf die Lebensmittelkontrollen in Deutschland ist aber zu beobachten, dass die Aufgaben und Zuständigkeiten der amtlichen Lebensmittelüberwachung immer mehr ausgeweitet werden, ohne dass die zur Verfügung stehenden Ressourcen in den Bundesländern adäquat mitwachsen und die bestehenden Strukturen angepasst werden. Diese Tendenz droht im Vollzug zunehmend zu nicht akzeptablen rechtsstaatlichen Defiziten zu Lasten der Unternehmen zu führen. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Befähigung und Stärkung der Kapazitäten der amtlichen Überwachung zur Durchführung der vorgesehenen Regel- und Anlasskontrollen, d.h. des Regelvollzugs, in jedem Fall vorrangiger als die Übertragung zusätzlicher (Informations-) Aufgaben auf die Überwachung.

Food Fraud-Prävention als neue, gemeinsame Herausforderung
Lebensmittelwirtschaft und Lebensmittelüberwachung bearbeiten hinsichtlich der Food Fraud-Problematik trotz unterschiedlicher Aufgabenstellungen dasselbe Problem mit demselben präventiven Ziel. Es besteht ein eigenes wirtschaftliches Interesse gerade der abnehmenden Lebensmittelwirtschaft, sich präventiv vor Verfälschungen der gelieferten Ware zu schützen. Eine wirkliche Prävention zur Bekämpfung von Lebensmittelbetrug kann aber nur erfolgreich sein, wenn nicht nur das Informationsmanagement im innerbehördlichen Bereich verbessert wird, sondern auch Lebensmittelwirtschaft und Lebensmittelüberwachung zukünftig Wege finden, ihre jeweiligen Erkenntnisse/Informationen aus unterschiedlichen Quellen zu einem frühen Zeitpunkt zusammenzuführen bzw. sich darüber auszutauschen. Nur auf diese Weise wird der vorsorgende (gesundheitliche) Verbraucherschutz tatsächlich gestärkt. Este Gespräche zwischen Lebensmittelwirtschaft und der Überwachungsseite dazu sind angelaufen.

Verfassungskonforme Ausgestaltung und Anwendung von Transparenzregelungen
Für die Lebensmittelwirtschaft von grundlegender Bedeutung ist seit jeher die Ausgestaltung staatlicher Transparenzregelungen, konkret die Frage, wann, unter welchen Bedingungen und in welcher Art und Weise Unternehmensnamen oder konkreten Unternehmen zuzuordnende behördliche Kontrollergebnisse veröffentlicht werden können. Hierzu hat insbesondere in Deutschland in den letzten Jahren eine intensive (rechts-) politische Diskussion stattgefunden. Diese betraf zum einen die Frage der behördlichen Nennung von Unternehmensnamen in der Öffentlichkeit gemäß § 40 LFGB, zum anderen die Frage nach der bewertenden Veröffentlichung von individuellen Kontrollergebnissen (Kontrollbarometer; Hygieneampel; Smiley-Kennzeichnung). Die EU-Kontrollverordnung 2017/625 räumt diesbezüglich neue Spielräume für den nationalen Gesetzgeber ein, die allerdings unter dem Vorbehalt der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung stehen und insbesondere die Schaffung einer rechtskonformen Rahmenregelung auf Bundes- oder Landesebene voraussetzen.
Jede politisch gewollte Ausweitung der Aufgaben der amtlichen Lebensmittelüberwachung setzt allerdings zwingend eine adäquate Aufstockung der zur Verfügung stehenden personellen wie finanziellen Ressourcen voraus, um im Vollzug rechtsstaatlichen Defiziten zu Lasten der betroffenen Unternehmen vorzubeugen. So stellt die bewertende behördliche Veröffentlichung von Kontrollergebnissen in den Unternehmen (Smiley, Transparenzbarometer, Hygieneampel) als staatlicher Wettbewerbseingriff in den Markt ein Instrument staatlicher Verbraucherinformation dar, an das nach Auffassung der Gerichte hohe rechtsstaatliche Anforderungen zu stellen sind. Aufgrund der bewertenden Einstufung der Betriebe durch den Staat wird der Konsument bei der Wahl seiner Einkaufsstätte oder seines Restaurants beeinflusst bzw. gelenkt, was auch gerade ein gewolltes Ziel dieser Maßnahme ist. Das Instrument der bewertenden behördlichen Einstufung hat damit unmittelbare Auswirkungen auf den Wettbewerb.
Aufgrund dieser Lenkungsfunktion und des damit verbundenen intensiven Grundrechtseingriffs kommt der Aktualität und Aussagekraft der Information sowie der zeitnahen Rehabilitierungsmöglichkeit für den betroffenen Lebensmittelunternehmer unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten eine besondere Bedeutung zu. Nach den bisherigen Diskussionen mit den einschlägigen Berufsverbänden zum Thema Smiley/Hygieneampel/ Transparenzbarometer sowie den Informationen zu den vorhandenen Ressourcen der amtlichen Lebensmittelüberwachung bestehen erhebliche Zweifel, ob die nach Mängelbeseitigung zur Rehabilitierung notwendige Vornahme einer zeitnahen, zusätzlichen amtlichen Kontrolle mit Neubewertung in der Vollzugspraxis tatsächlich regelmäßig gewährleistet werden kann. Jedes „Rosinenpicken“ der ausschließlich vorteilhaften verbraucherpolitischen Aspekte unter Ignorierung der erforderlichen kostenträchtigen Ressourcenaufstockung auf Seiten der Überwachungsbehörden geht aber vollumfänglich zu Lasten der betroffenen Unternehmen. Dies ist weder mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar noch für die deutsche Lebensmittelwirtschaft akzeptabel.

Grundlegende Kompetenzverlagerungen sorgfältig prüfen
Das derzeit zur Verfügung stehende, risikoorientiert arbeitende Kontrollsystem auf Seiten der amtlichen Lebensmittelüberwachung mit primär zuständigen kommunalen Vorortbehörden und einer ergänzenden Einbindung interdisziplinärer, mit zusätzlichem Spezialwissen ausgestatteter Kontrollteams auf Landesebene ist aus Sicht der Lebensmittelwirtschaft von seiner organisatorischen Struktur her zur wirksamen Aufgabenerfüllung geeignet, wenn die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten auch tatsächlich wahrgenommen werden.

Vermehrt zu beobachtende Überlegungen mit Blick auf eine Kompetenzverlagerung der Kontrollzuständigkeit für größere Betriebe „mit überregionalen oder globalen Handels- und Produktionsströmen“ weg von der kommunalen Ebene und hin zu neuen Landesbehörden müssen in jedem Falle gewährleisten, dass die in der Praxis unverzichtbaren Produkt- wie Betriebskenntnisse des Kontrollpersonals erhalten bleiben. Diese sind unerlässlich, um fachlich richtige wie angemessene, d.h. verhältnismäßige, Entscheidungen bzw. Maßnahmen auf der Basis sämtlicher zu berücksichtigender Aspekte treffen zu können. Eine generelle Verlagerung der Kontrollzuständigkeit auf die Landesebene bringt gerade in großen Flächenländern aufgrund der Entfernungen nicht automatisch einen Mehrwert oder eine bessere behördliche Kontrolle. Aus diesem Grunde sollten zunächst einmal die Erfahrungen, die mit der vor einiger Zeit in Bayern geschaffenen Bayerischen Kontrollbehörde für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen gemacht werden, abgewartet, sorgfältig diskutiert und evaluiert werden, bevor folgenreiche Grundsatzentscheidungen getroffen werden.

Finanzierung der amtlichen Überwachung
Auch die Frage der Finanzierung der amtlichen Lebensmittelüberwachung ist mit den Beratungen der EU-Kontrollverordnung 2017/625 wieder ins Blickfeld der öffentlichen Diskussionen gerückt und weckt bei ohnehin knappen Ressourcen Begehrlichkeiten in manchen Bundesländern.
Bei der Durchführung der amtlichen Lebensmittelüberwachung haben sich die Prinzipien der Risiko- und Verursacherorientierung bestens bewährt. Anlassbezogene Kontrollen sind nach dem Verursacherprinzip bislang bereits kostenpflichtig. Ebenfalls lösen „Dienstleistungen“ der Lebensmittelüberwachung, wie Betriebszulassungen, amtliche Bescheinigungen oder Veterinärdienstleistungen schon heute eine Gebührenpflicht aus.

Eine generelle Ausweitung der Gebührenpflicht auf die amtliche Regelkontrolle mit der Folge, dass die kontrollierten Unternehmen auch dann für die Überwachungstätigkeit bezahlen müssen, wenn sie keinen Anlass für die Kontrolle geboten haben und diese auch keinen Beanstandungsbefund ergeben hat, ist aus Sicht der Lebensmittelwirtschaft nicht sinnvoll. Die Überprüfung Gewerbetreibender und die Marktüberwachung im Hinblick auf die Einhaltung allgemeiner und spezifischer Vorschriften des Lebensmittelrechts zur Gewährleistung des gesundheitlichen Verbraucherschutzes und des Täuschungsschutzes liegen im öffentlichen Interesse und in der Verantwortung des Staates, weshalb die Ausführung und Finanzierung durch die öffentliche Hand im Rahmen der staatlichen Daseinsvorsorge weiterhin gerechtfertigt sind.


Dr. Marcus Girnau
Quelle: Lebensmittelverband Deutschland