Nähe muss smart werden – Tourismus braucht Transformation durch Digitalisierung und neue Netzwerke
Es ist die Osterzeit, in der ich diesen Beitrag verfasse, und wie so oft in diesen Tagen erinnern wir uns zurück an die Osterfeste der vergangenen beiden Jahre. Sie waren geprägt von den Lockdowns, in der keine Restaurantbesuche möglich waren und wir uns wegen der Kontaktbeschränkungen nur in engsten Kreisen zusammengefunden haben. Und nun: Das Leben ist wieder da, die Cafés sind voll, die Ausflugsziele gut besucht - die Menschen genießen das Frühjahr und nutzen wieder alle Freiheiten, die uns in der Pandemie immer wieder verwehrt blieben. Hotels werden wieder gebucht und Mutige sitzen bis weit in den Abend hinein auf den Terrassen und genießen ihr Essen.
Es ist eine Freude, das zu erleben und doch: Es ist nicht nur eine Reset-Taste, die gedrückt wurde. Der Tourismus befindet sich trotz der sichtbaren Rückkehr zu alter Lebensfülle und erkennbaren Steigerungen im freizeittouristischen Bereich in einer schweren Zeit: Wir dürfen nicht vergessen, dass die Corona-Pandemie im Tourismus eine der tiefgreifendsten Krisen aller Zeiten ausgelöst hat. Ich möchte noch einmal in Erinnerung rufen: Im vergangenen Jahr verzeichnete allein die Tourismusbranche in Deutschland wöchentliche Umsatzeinbußen von 1,1 Milliarden Euro gegenüber einem normalen Jahr, wie die Tourismusberatung dwif Consulting berechnet hat. Auf das Jahr gerechnet entspricht das knapp 59 Milliarden Euro. Zwischen März und Dezember 2020 waren es sogar knapp 69 Milliarden Euro.
Nordrhein-Westfalen hatte und hat unter der Krise besonders zu leiden – aus unterschiedlichen
Gründen: Zum einen mussten Veranstaltungen und Events, die normalerweise starke Publikumsmagneten und Anlässe für Reisen nach NRW sind, in den vergangenen Jahren überwiegend abgesagt werden. Zum anderen kam das traditionell starke Geschäftsreisesegment in Nordrhein-Westfalen pandemiebedingt monatelang zum Erliegen und es ist davon auszugehen, dass die Pandemie das Segment der Geschäftsreisen und geschäftlicher Veranstaltungen dauerhaft verändert haben dürfte. Hinzu kommt, dass auch das Incoming, also die Besuche ausländischer Gäste, monatelang nicht möglich waren und auch als Reisen theoretisch wieder erlaubt waren, blieben viele weiterhin zurückhaltend.
Und es bleiben in dieser Zeit, die nun mit dem schrecklichen Krieg in der Ukraine eine neue Dimension der Krisenpermanenz erreicht hat, Unsicherheiten. Die von den Menschen erlebte Dauerkrise der letzten Jahre bremst Aufbruchsstimmung und kann sogar Zukunftsängste evozieren. Wie sich der Krieg auf das Reiseverhalten auswirkt, bleibt abzuwarten. Vor dessen Ausbruch waren die Vorzeichen positiv: Laut einer Umfrage für den destinet Reise Plus Deutschland gaben 65 Prozent der Deutschen an, große oder sogar sehr große Reiselust zu verspüren, ein Plus von elf Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr. Besonders groß war die Reiselust demnach bei den angesprochenen Familien (74 Prozent). Auch Zeit und Geld sind vorhanden, wie aus der FUR-Reiseanalyse 2022 hervorgeht. Corona scheint den Umfragen zufolge deutlich weniger reiseentscheidend zu sein als in den vergangenen zwei Jahren. Wie sich jedoch die stark steigenden Mobilitäts- und Energiekosten, die auch die allgemeine Inflation befeuern und viele Dienstleistungen verteuern, auf das Reiseverhalten auswirken, werden wir erst in einigen Wochen wissen. Sie könnten der erwarteten Erholung einen Dämpfer verpassen, auch wenn wir wissen, dass das Reisen in Krisenzeiten ein wichtiges Konsumgut bleibt. Gerade in der Corona-Pandemie hat sich gezeigt: Dann, wenn gelockert wurde, zog die Nachfrage wieder an. Vielleicht wurden nicht immer die ursprünglich geplanten Reiseziele angesteuert, sondern näher gelegene Urlaubsziele besucht. Auch hier sehen wir eine Chance für unser Land.
Halten wir also fest: Noch immer hat die Branche zu kämpfen, mit den Auswirkungen der Pandemie und der Sorge um die Zukunft in einem nicht ausgeschlossenen, weiteren CoronaHerbst sowie um einen fortschreitenden Krieg in der Ukraine. Was die Branche jetzt braucht, ist Stabilität. Denn so bedeutsam die touristische Infrastruktur auch ist und so sehr sie den Menschen während der Lockdowns Zuflucht und Ausgleich bot, so sehr brauchen wir auch die gesamte Servicekette, damit der Tourismus seine Wirtschaftskraft entfalten, Umsätze generieren und Arbeitsplätze sichern kann.
Dabei sehen wir im Kontext der Krise durchaus große Potenziale. Der Tourismus hat gerade in Nordrhein-Westfalen jetzt eine Chance, sich neu aufzustellen. Corona hat vieles verändert, nicht zuletzt das Bewusstsein, wie nah in unserem Land die Möglichkeiten beieinander liegen, Arbeit und Freizeit, Verdichtung und Entspannung miteinander zu verbinden. Das gilt auch in Urlaubs- und Ferienzeiten - und besonders für eine Zielgruppe, die wir zukünftig konzentrierter ansprechen wollen: Die Familien. Denn nirgendwo, die Behauptung können wir ruhig wagen, bieten Destinationen eine solche Fülle von Möglichkeiten der Freizeit- und Urlaubsgestaltung.
Nein, wir haben keinen Meeresstrand und keine hohen Berge, aber dafür eine Fülle von attraktiven Freizeitmöglichkeiten. Verschiedenste Wassersportaktivitäten, Skifahren, anspruchsvolles Wandern und sportliches Radfahren – all das geht bei uns. Und immer kann man dies mit einem Museumsbesuch, einem kleinen Stadtbummel oder einem ausgedehnten Shoppingtrip verbinden. Immer mehr steht diese Nähe für gut machbare Auszeiten und wird wegen der kurzen Anreisen im Übrigen auch den zunehmenden Ansprüchen der Menschen an Nachhaltigkeit gerecht. Eigentlich heißt es ja: Die Vielfalt ist der Marketingtod. Aber jetzt, wo die Nähe eine Chance hat, neu entdeckt und bewertet zu werden, wird unsere Vielfalt zur Stärke. Denn es lassen sich unterschiedliche Interessen, zum Beispiel von Familienmitgliedern, gut unter einen Hut bringen. Langweilig wird es dann für niemanden – ein nicht zu unterschätzender Vorteil für planende Eltern!
Chancen ergeben sich auch durch die Auflösung des ortsgebundenen Arbeitens. Arbeiten im Remote-Modus ist möglich, hat sich in der Pandemie bewährt und wird auch nicht wieder verschwinden. Viele Anbieter entwickeln daraus neue Geschäftsmodelle: „Workation“ bedeutet, leistungsfähiges Internet vorausgesetzt, dass die Arbeit tagsüber auch in der Ferienwohnung oder im Hotelzimmer erledigt werden kann – mit der Aussicht auf einen anschließenden Sprung ins Seebad oder auf Yoga auf der Bergwiese. Und auch das Bedürfnis jüngerer Zielgruppen, kreativ und kollaborativ zu arbeiten, lässt sich längst nicht mehr nur in den Ballungsräumen abbilden. Vielerorts entstehen auch außerhalb der Städte neue New-Work Refugien, die Ruhe und Abgeschiedenheit kreativ und mit neuen Geschäftsmodellen für sich zu nutzen wissen.
All das zeigt: Gerade wir in Nordrhein-Westfalen tun gut daran, vernetzt zu denken und mit Multioptionalitäten zu spielen. Vieles wächst so in neuen Bedürfnissen zusammen: Städtische und ländliche Umfelder, Arbeiten und Freizeit, Natur und Entertainment. Gerade die Regionen unseres Landes haben hier eine Chance, innovativ und mit neuen Angeboten zu werben, auch jüngere Zielgruppen anzusprechen, und das nicht nur für den Tourismus. Arbeiten, wo andere Urlaub machen – bei uns kann umgekehrt ein Schuh daraus werden: Urlaub machen, wo andere gerne arbeiten. Denn das heißt, dass Wirtschaftskraft vorhanden ist und die Regionen attraktiv sind für Köpfe von morgen.
Viele Regionen und auch Bundesländer machen sich auf, um mit ihren Markenaussagen auch das Thema „Employer Branding“ abzudecken und die Attraktivität für die, die kurzzeitig kommen mit denen, die längerfristig bleiben sollen, miteinander zu verbinden. Qualität, auch die der Infrastruktur, und Service, digital unterstützt ebenso wie im analogen „People‘s Business“, bleiben die Basisfaktoren. Ein so verstandener Tourismus, dem auch unter kommunaler Steuerung für diese Aufgaben Ressourcen eingeräumt und gleichzeitig Zugänge zu Netzwerken eröffnet wird, kann für die Regionen und ihre Wertschöpfung vieles bewirken.
Wichtig ist es, diese Chancen zu nutzen und dabei die zusammenwachsenden Ansprüche an Digitalisierung und Nachhaltigkeit aufzugreifen, und zwar auch als integrative Bestandteile regionaler Entwicklung. Und reden wir hier von Nachhaltigkeit, meinen wir keineswegs nur ihre ökologische Dimension: Auch Zukunftsthemen wie soziale Nachhaltigkeit und Inklusion müssen hier mitgedacht werden. Attraktiv zu sein für Gäste und Mitarbeiter und für Menschen aller Altersgruppen und Zugangsvoraussetzungen – auch dazu kann ein Tourismus als Teil und Motor eines Netzwerkes starker Regional- und Standortaussagen eine erhebliche Rolle spielen.
Wir im Tourismusverband werden jedenfalls bei künftigen Projekten noch integrativer und vernetzter auf diese künftigen Bedarfe antworten wollen. Denn der Tourismus wird in Zukunft eine große Chance haben, mit dem Urlaub in der Nähe ebenso zu werben wie mit neuen interaktiven Formaten zum Beispiel im Geschäftstourismus. Und damit wird er schlussendlich zum Schaufenster lebenswerter Regionen, so dass seine eigentliche Stärke weit mehr umfasst als die unmittelbare Wertschöpfung, die er generiert.
Dr. Heike Döll-König
Quelle: Niels Freidel