Nachhaltig und zirkulär – der Neubau des Kreisarchivs Viersen

26. März 2019: Von Dr. Michael Habersack, Kreisarchivar, Kreis Viersen

Archivieren ist nur sinnvoll, wenn es eine Zukunft gibt, in der das Archivierte rezipiert werden kann. Und eine solche Zukunft gibt es nur, wenn der Ressourcenverbrauch der Menschheit nicht immer weiter steigt. Der Kreis Viersen hat sich deshalb für den notwendigen Neubau seines Kreisarchivs die Prinzipien der zirkulären Wertschöpfung auf die Fahnen geschrieben: Selbst wenn das Gebäude einmal nicht mehr gebraucht würde, soll es noch eine Menge von Ressourcen für andere hochwertige Verwendungen darstellen, ein Rohstofflager für die Zukunft („Urban Mining“) und nicht den Haufen Bauschutt von übermorgen, der bestenfalls noch für die Müllverbrennung oder eine Straßenschüttung taugt.

Motivation, Bedarf und Zielsetzung des Neubaus
Neben der Nachhaltigkeit war es von Anfang an ein gesetztes Ziel, das Kreisarchiv als eine der zentralen Kultureinrichtungen des Kreises nicht nur mit Zuwachsfläche, sondern auch funktional und architektonisch adäquat unterzubringen. Nach der Erhebung des Bedarfs und der Aufstellung eines Raumprogramms wurde deshalb ein Architektenwettbewerb mit 19 einreichenden Teilnehmern durchgeführt. Die mediale Wahrnehmung im Kreis und darüber hinaus ist seitdem enorm, die Resonanz auf den Siegerentwurf, der auch realisiert wird, durchgehend positiv.


Das neue Kreisarchiv Viersen von Osten
Quelle: DMG Architekten, Krefeld

Die Architektur gliedert sich in einen niederrhein-typisch verklinkerten Magazinkubus, der im Erdgeschoss von allen anderen Funktionsbereichen umringt wird. Dieses „Umringsgebäude“ wird eine einladende Konstruktion aus Holz und Glas. Durch große Fensterflächen in Verbindung mit einem deutlich überkragenden Dach wird es hell, ohne dass die Sonne die Räume überhitzt. Der Neubau bekommt einen als Ausstellungsfläche nutzbaren Foyer-Bereich, dem sich gegen den Uhrzeigersinn der Lesesaal mit Freihandbibliothek, ein Gruppenarbeitsraum für Heimat- und Geschichtsvereine, ein Raum für die Nutzung von audiovisuellen Medien, die Toilettenanlage, ein Abstellraum und ein teilbarer Vortrags- und Gruppenarbeitsraum anschließen. Es folgen Restaurierungswerkstatt, Materiallager und Reinigungsraum mit reiner Werkbank, Übernahmeraum, Anlieferungsrampe und Digitalisierungswerkstatt. Daran schließen sich Teeküche, Büros und Besprechungsraum an.

Die Anlieferung ist funktional gestaltet und bildet eine Schleuse. In ihren vorderen Teil können Lieferfahrzeuge und LKW einfahren, im hinteren Teil können sie eben und regensicher entladen und das Archivgut bedarfsgerecht in Richtung Eingangsarchiv, Reinigungsraum, Quarantänemagazin oder Büros verteilt werden. Im vorderen Teil können die Bediensteten auch ihre Fahrräder regen- und diebstahlsicher abstellen und, im Fall von Elektrorädern, laden. Über die Anlieferung ist außerdem der Technikkeller zu erreichen, so dass technische Revisionen ohne Zugang oder Durchquerung des Magazins erfolgen werden. Personalduschen in der Nähe der Anlieferung erleichtern weiter die Entscheidung, mit dem Rad umweltfreundlich zur Arbeit zu kommen. Weder von der Anlieferung zum Reinigungsraum noch vom Foyer zum Lesesaal oder Vortragsraum müssen Treppen oder Stufen überwunden werden. Die Barrieren für Nutzerinnen und Nutzer werden sich deutlich verringern.

Der Magazinkubus ist nur über zwei gesicherte Zugänge erreichbar, die beide mit einem Schleusensystem ausgerüstet sind, so dass das Klima des fensterlosen Kubus auch ohne technische Unterstützung sich nur träge ändert und ein unbefugter Zugang nicht stattfindet.

Mit dem neuen Gebäude werden zahlreiche Desiderate der Vergangenheit umgesetzt, die Möglichkeiten des Kreisarchivs für archivpädagogische Angebote potenzieren sich, die Arbeitsprozesse werden erleichtert und der Schutz des Archivguts wesentlich verbessert. Aber auch der Service für die Kreisverwaltung wird sich durch die Zusammenlegung der Standorte, die kürzeren Wege und die schon jetzt vorangetriebene Umstellung der Archivsoftware verändern und verbessern.

Das Kreisarchiv Viersen ist neben dem Kreisarchiv Warendorf eines der beiden Kreiszentralarchive in Nordrhein-Westfalen. Es ist zuständiges Archiv für den Kreis und acht von neun kreisangehörigen Gemeinden. Schon jetzt hat das Kreisarchiv Viersen vier feste Bildungspartnerschaften und kooperiert mit weiteren Schulen im Kreisgebiet. Daneben gibt es sehr aktive heimatgeschichtliche Arbeitskreise. Mit zwei Lesesälen an zwei Standorten aber ohne Gruppenarbeitsraum bedeuten Angebote an eine Nutzergruppe – z. B. Schulklassen oder Arbeitsgruppen von Vereinen – in der gegenwärtigen Raumsituation zwangsläufig Einschränkungen für alle anderen Nutzergruppen, weil der Lesesaal als einziger Arbeitsraum dann blockiert ist. Auch dieser Situation Abhilfe und den Angeboten Raum zu schaffen, war von Anfang an Ziel des Neubau-Projekts.

Das Bauvorhaben


Ansicht aus dem BIM-Modell des Kreisarchivs
Quelle: Kreis Viersen

Damit das Modell der zirkulären Wertschöpfung in dem Neubau funktionieren kann, sind Informationen über die verwendeten Baustoffe und deren Qualitäten von essentieller Bedeutung. Das Gebäudemanagement des Kreises, der Architekt und die Fachplaner setzen daher – auch planerisch innovativ – ein Building Information Modeling (BIM) ein. Der darin modellierte digitale Zwilling des Gebäudes ermöglicht neben der bauteilbezogenen Hinterlegung von Daten die dreidimensionale Kollisionskontrolle. Dadurch können Konflikte zwischen Leitungsplanungen sehr viel leichter und vor allem vor Baubeginn erkannt und behoben werden. Die Projektplanung des Kreisarchiv-Neubaus ist mit diesem Vorgehen zugleich Großversuch und Modell für weitere Bauvorhaben des Kreises, namentlich für eine Schule und den Neubau des Straßenverkehrsamtes.
Das neue Kreisarchiv wird am Ransberg in Viersen-Dülken entstehen, wobei man schon Niederrheiner sein muss, um einen Berg zu erkennen. In seiner Nachbarschaft werden die beiden anderen Projekte realisiert, so dass zwischen den Gebäuden Synergien realisiert und genutzt werden sollen. Das Prinzip der Wertschöpfung soll nicht erst bei einer einstigen Wiederverwertung der Bauteile funktionieren, sondern schon im Betrieb; der Kreisarchiv-Neubau wird mehr Energie erzeugen als er verbraucht, auf fossile Energieträger wird verzichtet. Das Gebäude wird weder Öltank noch Gasanschluss haben. Dadurch entfallen auch potentielle Gefahrenquellen. Und der Gedanke der zirkulären Wertschöpfung wird auch bei der Beschaffung des Mobiliars berücksichtigt.
Statt aus der Gasleitung wird die Energie für das gleichmäßige Magazinklima und für die Arbeitsräume aus einer Kombination von Kraftdach, Eisspeicher und Brunnenanlage kommen. Bis ins Detail wird schon in der Planung überlegt, was aus den Bauteilen zu machen wäre, wenn das Gebäude eines Tages umgenutzt oder ganz oder teilweise zurückgebaut werden würde. So werden etwa die Balken des Umringsgebäudes so dimensioniert, dass sie im Fall eines Rückbaus längs gesägt und anderweitig wieder eingebaut werden könnten, Verbundstoffe werden soweit wie möglich vermieden, Leitungen leicht erreichbar, prüfbar und austauschbar verlegt. Tragende Innenwände gibt es nahezu keine, so dass eine anderweitige Nutzung möglich bleibt. Für die Betondecken des Magazinkubus sind moderne Systemteile geplant, die die notwendige Tragfähigkeit mit deutlich geringerem Materialverbrauch als „klassischer“ Ortbeton erreichen.
Von der ökoeffektiven Perfektion sind wir heute noch entfernt; einen Stromanschluss wird das Gebäude brauchen, auf Beton kann für die notwendigen Deckenbelastbarkeiten und für die Gebäudeaussteifung nicht ganz verzichtet werden und einige nicht trennbare Stoffverbindungen sind angesichts der baulichen wie fachlichen Anforderungen an das Gebäude nicht an allen Stellen zu vermeiden. Das gilt zum Beispiel für den Boden, der glatt und feucht wischbar sein soll. Bei anderen Elementen stellt sich durchaus die Frage, was die nachhaltigere oder eher als zirkulär zu betrachtende Lösung ist: Ist es der kaum wiederverwendbare Fensterrahmen aus nachwachsendem Holz oder doch der energieintensiv aus Bauxit gewonnene Aluminiumrahmen, für den es aber heute bereits zirkuläre Wiederverwendungskonzepte gibt?
Unbenommen der Notwendigkeiten, dass an manchen Stellen zwischen Vor- und Nachteilen abgewogen werden muss und baufachliche, archivfachliche, brandschutztechnische, architektonische und ökologische Anforderungen miteinander in Einklang gebracht werden mussten, besteht zwischen dem Kreis Viersen, dem Architekten und den Fachplanern Einigkeit, dass wir mit dem Projekt Kreisarchiv in die richtige Richtung denken und an vielen Stellen zeigen, wie eine zukunftstaugliche Lösung aussehen kann.
Die Planungen sind weit fortgeschritten, der „digitale Zwilling“ des Neubaus existiert bereits im BIM, der erste Spatenstich ist für den September dieses Jahres geplant. 2020 soll das Gebäude dann weitgehend fertiggestellt sein, im Lauf des Jahres 2021 soll es bezogen werden.
Geplant ist der Neubau für einen Zuwachshorizont von 30 Jahren. Eine Erweiterung wäre dann durch ein zusätzliches Stockwerk auf dem Magazinkubus möglich. In dieser Zeit wird sich zeigen, ob es zu dem prognostizierten Abschwellen der papierhaften Anbietungen kommt und die Überlieferungsbildung sich zunehmend auf den elektronischen Bereich verlagert. Wäre das der Fall, dann könnten die Kapazitäten des Gebäudes auch über die nächsten 30 Jahre hinaus noch lange reichen, um unserer Zukunft ein vielschichtiges Bild der Vergangenheit zu bieten, das für jede Generation neu erforscht werden kann und muss.
Wenn das neue Kreisarchiv dabei eine Landmarke bildet, die zur Nutzung anregt und ökologisch nachhaltiges Bauen mit den fachlichen Anforderungen eines öffentlichen Archivs verbindet, dann ist das nicht nur ein Beispiel für gute Architektur, sondern auch eine Bereicherung für das kulturelle Leben im Kreis!

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Dr. Michael Habersack
Quelle: Kreis Viersen