Mit den Herausforderungen wachsen – Ein Jahr Coronapandemie im Kreis Lippe
„Wir sind zusammengewachsen“: Dieses Fazit ziehen Dr. Kerstin Ahaus und Meinolf Haase mit Blick auf die vergangenen zwölf Monate. Am 5. März 2020 ist in Ostwestfalen-Lippe zum ersten Mal das Coronavirus nachgewiesen worden. Eine Lipperin hatte sich im Skiurlaub in Österreich mit SARS-CoV-II angesteckt. Bis heute zählt der Kreis rund 11.000 bestätigte Infektionen. Von Routine kann auch jetzt noch keine Rede sein. Und dennoch bringt jede Herausforderung auch etwas Gutes mit sich.
Vom Feuerwehrausbildungszentrum zum Krisenzentrum: Hand in Hand gegen Corona
Im Feuerwehrausbildungszentrum in Lemgo herrscht seit ein paar Monaten Hochbetrieb. Vor der Pandemie haben hier rund 50 Mitarbeitende im Bevölkerungsschutz und in der Leitstelle gearbeitet, jetzt sind es gut 150.
Quelle: Kreis Lippe
Normalerweise ist hier der Name Programm: Am Feuerwehrausbildungszentrum des Kreises Lippe in Lemgo werden Feuerwehrleute, Helfer und Retter umfassend geschult und für tägliche und nicht alltägliche Herausforderungen in der Brandbekämpfung und im Hilfeeinsatz gerüstet. 2020 ruhte der Ausbildungsbetrieb in den Hochzeiten der Pandemie fast vollständig. Ruhe ist hier, wo vor einem Jahr rund 50 Personen im Bevölkerungsschutz und in der Leitstelle gearbeitet haben, dennoch nicht eingekehrt. Im Gegenteil: Aus dem Feuerwehrausbildungszentrum ist in den vergangenen Monaten ein Krisenzentrum geworden, in dem nun zusätzlich 100 Menschen aus verschiedensten Bereichen der Kreisverwaltung, ihrer Beteiligungen, aus Hilfsorganisationen und der Bundeswehr im Kampf gegen Corona im Einsatz sind. Regelmäßig trifft sich der Krisenstab an dieser Stelle. Weil die räumlichen Kapazitäten im Gesundheitsamt längst nicht mehr ausreichen, läuft ein Großteil der Kontaktpersonennachverfolgung inzwischen am Feuerwehrausbildungszentrum. 50 Soldaten unterstützen dabei seit November. In Containern zwischen Schlauchturm und Brandübungsstrecke planen Mitarbeiter den Personaleinsatz der mobilen Teams, die seit Beginn der Pandemie eine bedeutende Rolle in der Teststrategie des Kreises Lippe einnehmen. Bis zu zwölf Teams können von hier aus starten, um Personen im gesamten Kreisgebiet zu testen. Im Sommer lagerten in den Fahrzeughallen pallettenweise Schutzmaterialien von Bund und Land, die der Bevölkerungsschutz an die lippischen Alten- und Pflegeeinrichtungen verteilt hat. „Jeder Zentimeter Platz ist inzwischen belegt“, sagt Meinolf Haase. Den Schritt, viele verschiedene Aufgaben und Menschen an einer Stelle zusammenzuführen, bereut der „Hausherr“ nicht: „Jede neue Aufgabe schweißt uns ein Stück zusammen.“ Das unterstreicht auch Dr. Kerstin Ahaus. Anfang 2020 zählten 55 Mitarbeiter zu ihrem Team im Gesundheitsamt, heute sind es knapp 300, die sich mit der Coronapandemie befassen. „Wir arbeiten hier Hand in Hand, tauschen uns auf dem kurzen Dienstweg aus, treffen gemeinsam Entscheidungen und stehen auch gemeinsam dafür gerade, wenn etwas einmal nicht gut läuft“, betont sie.
Sensible Bereiche schützen: Lippe betreibt eines der ersten Diagnostikzentren in Deutschland
Das Diagnostikzentrum im Kreis Lippe gehörte zu den ersten in ganz Deutschland. Entsprechend hoch war das Medieninteresse. Bevor es losgeht, erfolgt die Einweisung vor dem Testzelt.
Quelle: Kreis Lippe
Eine Entscheidung, die schnell gefallen ist, war der Aufbau eines zentralen Testzentrums für Coronaverdachtsfälle und Kontaktpersonen. Nachdem am 5. März der erste Coronafall in Lippe bestätigt wurde, hat der Kreis in Zusammenarbeit mit der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen Lippe (KVWL) und der Stadt Detmold noch am gleichen Tag im Kultur- und Veranstaltungszentrum ‚Hangar 21‘ in der Residenzstadt ein Diagnostikzentrum eingerichtet und war damit nicht nur Vorreiter in OWL, sondern deutschlandweit einer der ersten Kreise, der diesen Schritt gegangen ist. „Wir wollten vorbereitet sein und waren es“, betont Landrat Dr. Axel Lehmann. Nur einen Tag später ist das Diagnostikzentrum in den Echtbetrieb gegangen und damit früher als erwartet. Eine lippische Schülergruppe, die zum Skifahren in Südtirol war, meldete sich auf dem Rückweg nach Lippe, weil einige Schüler coronatypische Symptomen zeigten. Statt nach Hause ging es mit dem Reisebus auf direktem Weg zum Test ins Diagnostikzentrum. „Auch, wenn sich der Verdacht nicht bestätigte, hat sich an diesem Abend gezeigt, dass die Abläufe stimmen. Wir wollten mögliche Infektionsketten von Anfang an unterbinden und damit vor allem sensible Bereiche, wie unsere Kliniken, schützen“, unterstreicht der Landrat. Hand in Hand haben auch hier die Mitarbeiter des Bevölkerungsschutzes, des Gesundheitsamtes, der klassischen Verwaltung und viele Ehrenamtliche mit Ärzten und medizinischen Fachangestellten der KVWL bis zum 10. Juni des vergangenen Jahres zusammen gearbeitet. „Jeder hat dort angefasst, wo es notwendig war, und das unabhängig von seiner beruflichen Qualifikation“, erzählt Dr. Kerstin Ahaus. „Und auch diese Situation hat Menschen zusammengeführt, die sich im Berufsalltag nie begegnet wären. Für das gute Miteinander, auch nach Corona, hat die Pandemie auch ihre guten Seiten“, ist sich die Amtsärztin sicher.
Nach dem Rückbau des Diagnostikzentrums in Detmold gingen die Tests mit mobilen Teams weiter. Als Reaktion auf rapide steigende Fall- und Testzahlen hat der Kreis Lippe mit Unterstützung der Stadt Lemgo am 13. Oktober 2020 dann erneut ein eigenes neues Diagnostikzentrum in der Alten Hansestadt aufgebaut. „Die Einrichtung eines separaten Testzentrums hatte sich bereits einige Monate vorher bewährt, die Abläufe waren bekannt. Die mobilen Teams konnten sich nun fast ausschließlich auf Einrichtungen konzentrieren, in denen Coronafälle aufgetreten waren“, berichtet Meinolf Haase. Mit diesen zwei Standbeinen – mobile Teams und stationäres Testzelt – war es im vergangenen Jahr möglich, viele Menschen in Lippe zu testen. Über 43.000 Abstriche schlagen seit dem 6. März 2020 allein auf Kreisseite zu Buche.
Schnell, sicher und digital: Kreis entwickelt eigenes IT-Programm
IT-Programm des Gesundheitsamts Lippe.
Quelle: Kreis Lippe
43.000 Abstriche bedeuten in der Summe viele Namen, Adressen, Testergebnisse, zahlreiche Quarantäneschreiben und ein Vielfaches an Daten von Kontaktpersonen. Zu Beginn der Pandemie waren es Berge an Papier, mit denen die Mitarbeiter im Gesundheitsamt zu kämpfen hatten. Neben Fachprogrammen, die nicht für die Coronapandemie ausgelegt waren, waren Word und Excel die gängigen Programme, um Daten nachzuhalten. Gemeinsam haben Gesundheitsamt und strategische IT bereits wenige Wochen nach dem ersten Coronafall in Lippe ein Programm entwickelt, was die Abläufe vom Test bis zur Kontaktpersonennachverfolgung erleichtert. Die Entwicklung ist dabei nie abgeschlossen, das Programm kann jederzeit optimiert werden. „Die Pandemie war für alle eine neue Situation, ein dafür spezifisches Programm gab es noch nicht. Daher ist die Anwendung bis heute eine enorme Erleichterung, vieles geht schneller, die Kommunikation funktioniert besser“, betont Dr. Ahaus.
Die Mitarbeiter aus dem Gesundheitsamt können Patientendaten anlegen, Quarantänebescheide erstellen oder digitale Fragebögen einrichten. Die Fragebögen werden automatisch in Patientendaten umgewandelt, die manuelle und mehrfache Eingabe und damit eine potentielle Fehlerquelle entfallen. Die jeweiligen Fälle werden automatisch dem entsprechenden Ermittlerteam zugeordnet, der zuständige Mitarbeiter kann mit Hilfe eines Erinnerungs- und Wiedervorlagensystems die Arbeit zum passenden Zeitpunkt erledigen. Über ein Nachrichtensystem können die Mitarbeiter untereinander kommunizieren. Eine Filter- und Suchfunktion ermöglicht eine präzise Auflistung zu einem bestimmten Fall. Die mobilen Teams wiederum haben durch die entsprechende App Zugriff auf Termine und relevante Adressdaten. Wurde ein Abstrich gemacht und das Ergebnis liegt dem Labor vor, erfolgt in den meisten Fällen eine automatische Meldung an das System. Umgekehrt können auch bereits bestehende Excel-Listen ins System importiert werden. Das bewährt sich bei größeren Testungen wie beispielsweise an Schulen. Oberste Prämisse ist dabei der Datenschutz: Es gibt bestimme Zugriffsberechtigungen, sodass nicht jeder alles sehen kann. Die Tablets nutzen eine verschlüsselte VPN-Verbindung, ansonsten erfolgt der Zugriff innerhalb des gesicherten Kreishausnetzes. Außerdem erstellt die Anwendung automatische Statistiken, beispielsweise wie viele Abstriche durch die mobilen Teams täglich durchgeführt werden.
Derzeit wird geprüft, ob das Programm mit SORMAS kompatibel ist und damit auch wichtige Schnittstellen zu anderen Gesundheitsämtern entstehen können.
Sondereinrichtung Kurzzeitpflege: Versorgung Pflegebedürftiger wird sichergestellt
Auch, wenn Anfang März noch nicht absehbar war, wie sich Corona in den kommenden Monaten weltweit auswirken wird, hat sich der Krisenstab des Kreises früh mit möglichen Szenarien beschäftigt. Schnell kam die Frage auf, was mit pflegebedürftigen Menschen passiert, die zu Hause leben, aufgrund eines Coronafalls aber nicht mehr betreut werden können. Nur wenige Wochen nach der Frage, ging am 1. April 2020 die „Sondereinrichtung Kurzzeitpflege“ in der ehemaligen Parkresidenz in Bad Meinberg in Betrieb.
Das einstige Alten- und Pflegeheim wurde kurzfristig für 36 Pflegeplätze ausgestattet und durch die Kreissenioreneinrichtungen Lippe GmbH betrieben. Pflegefachkräfte des Kreises und der Kreissenioreneinrichtungen standen zur Verfügung. Außerdem wurde eng mit ambulanten Pflegediensten, Tagespflegen, stationären Pflegeeinrichtungen sowie dem medizinischen Dienst der Krankenkassen zusammengearbeitet. Ein Mediziner hatte sich ebenfalls bereit erklärt, den Betrieb der Einrichtung zu unterstützen. „In der damals für alle unbekannten und unsicheren Lage hat unser Krisenstab ein Konzept erarbeitet, das landesweit eine Vorreiterrolle eingenommen hat. Das NRW-Gesundheitsministerium hat unser Vorhaben unterstützt und andere Kreise und kreisfreie Städte in NRW ermuntert, ähnliche Einrichtungen nach unserem Vorbild zu organisieren“, erklärt Landrat Lehmann. „Hier haben viele Personen und Institutionen an einem Strang gezogen, um eine gute Idee für die lippischen Bürgerinnen und Bürger in kürzester Zeit zu realisieren“, resümiert er. Bis Ende Mai konnten in der Sondereinrichtung 32 Menschen betreut und gepflegt werden.
Der Aufbau der Kurzzeitpflege machte sich bereits wenige Tage nach Aufnahme des Betriebs bezahlt. In einer Reha-Klinik in Bad Meinberg hatten sich über 100 Patienten und Mitarbeiter mit dem Coronavirus infiziert, die Versorgung der Patienten war nicht mehr sichergestellt. In einer 24-stündigen Aktion haben der Bevölkerungsschutz des Kreises, das Gesundheitsamt, die Klinik sowie 150 Einsatzkräfte von Feuerwehren und Rettungsdiensten die Reha-Einrichtung geräumt. Einige der Patienten kamen in der wenige hundert Meter entfernten Sondereinrichtung unter.
Offene Kommunikation von Anfang an: Die zwei Seiten der sozialen Medien
Per Videobotschaft hält Landrat Dr. Axel Lehmann die Bevölkerung auf dem Laufenden.
Quelle: Kreis Lippe
Viele Maßnahmen, die der Kreis Lippe in den vergangenen zwölf Monaten angestoßen und umgesetzt hat, brachten ein großes mediales Interesse mit sich. Doch auch der Alltag in der Kommunikation war bestimmt von Corona. „Für mich stand fest, dass wir mit allen Themen, auch den negativen oder unliebsamen, offen umgehen werden“, erklärt Landrat Dr. Lehmann. Neben der klassischen Pressearbeit hat der Landrat zu Beginn der Pandemie nahezu täglich via Videobotschaft in den sozialen Medien über das aktuelle Geschehen im Kreis Lippe berichtet. Die Resonanz war groß, ebenso der Zuspruch aus der Bevölkerung. Viele fühlten sich gut mitgenommen und authentisch informiert. „Womit wir lernen mussten umzugehen, war die Tatsache, dass mit andauernder Pandemie und steigenden Follower-Zahlen negative Kommentare an der Tagesordnung waren, die jeglicher sachlichen Diskussion entbehrten“, berichtet Lehmann. Dabei geht es ihm nicht um Kritik: „Manche Entscheidungen, die wir treffen mussten, waren unpopulär. Ich verstehe alle Menschen, die unzufrieden sind und ihrem Ärger Luft machen möchten. Was ich nicht verstehe und akzeptiere, sind Hetzkommentare und Kommentare, die weit unter die Gürtellinie gehen“. Für Lehmann dennoch kein Grund, den Social Media-Weg wieder zu verlassen. Bis heute hält er die Menschen in Lippe mindestens einmal in der Woche per Video auf dem Laufenden. „Wir moderieren die Diskussionen so gut wie möglich. Oft sind es aber auch die Nutzer aus der Community selbst, die Coronaleugner wieder einfangen oder den Ausgleich zwischen sachlich und unsachlich schaffen“.
Dr. Kerstin-Ahaus Quelle: Kreis Lippe |
Meinolf Haase |