Interkulturelle Bibliotheksarbeit – weil mehrsprachiges Lesen Grenzen überwindet
Seit 2019 wird das Projekt „Interkulturelle Bibliotheksarbeit“ konzeptionell vom Kommunalen Integrationszentrum (KI) Kreis Heinsberg, Arbeitsfeld „Frühe Bildung / Elementarbereich“, umgesetzt. Bibliotheken stehen hierbei als non-formale Lernorte im Zentrum, um zum einen Kindern die Freude am Lesen - auch multilingual - zu vermitteln und zum anderen, um eine gesamtgesellschaftliche Öffnung in Richtung Diversität und Mehrsprachigkeit als Normalität zu realisieren. Diese Entwicklung - hin zu einer „Interkulturellen Bibliotheksarbeit“ - wird durch das KI Kreis Heinsberg durch vielfältige Angebote unterstützt, die auf die Förderung von interkultureller Kompetenz, die Anerkennung und Förderung von Mehrsprachigkeit, das Ermöglichen gleicher Teilhabe- und Bildungschancen für alle Kinder sowie die Wahrnehmung der Bibliotheken als Bildungs- und Lernort für die ganze Familie abzielen.
Ausgangslage und Zielsetzungen
Unsere Gesellschaft ist geprägt durch steten Wandel, nicht zuletzt aufgrund von Zuwanderung und daraus resultierender Mehrsprachigkeit. Um darin zu unterstützen, dies als Chance und Bereicherung anzusehen sowie Vielfalt und Diversität zu fördern, wurde 2019 das Projekt „Interkulturelle Bibliotheksarbeit“ durch das KI Kreis Heinsberg initiiert.
Immer wieder fliehen Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern aufgrund von Krieg, politischer Verfolgung, Hungersnöten oder wirtschaftlichen Faktoren nach Deutschland und somit auch in den Kreis Heinsberg. Daneben wurden Mitte des 20. Jahrhunderts Arbeitskräfte aus vornehmlich südeuropäischen Staaten und aus der Türkei im Kreisgebiet angeworben. Auch fanden Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler im Kreis Heinsberg eine neue Heimat. Seit der Errichtung der NATO Air Base in Geilenkirchen finden Angehörige der Streitkräfte sowie deren Familien aus 17 Nationen einen dauerhaften Wohnsitz im Kreisgebiet. Weiterhin stellt die geografische Lage des Kreises Heinsberg in unmittelbarer Nachbarschaft der Niederlande sowie der Nähe zu Belgien ein bedeutsames Moment zur Anerkennung und Förderung von Mehrsprachigkeit dar.
Auf der Grundlage des durch das BMBF geförderten Programms „Kommunale Koordinierung der Bildungsangebote für Neuzugewanderte“ wurde das KI-Projekt „Interkulturelle Bibliotheksarbeit“ initiiert, um die Angebote des Bildungsortes Bibliothek einem multikulturellen Gesellschaftsbild anzupassen sowie Bildungshemmnisse durch diversitätsbewusste Angebote abzubauen.
Kooperationen und Projektinhalte
Kooperationspartner des Projektes sind die vier städtischen Bibliotheken Heinsberg, Hückelhoven, Erkelenz und Geilenkirchen sowie die Bibliothek des „Kunst-, Kultur- und Bücherkiste Übach Palenberg e.V.“.
Bereits 2019 wurden die kooperierenden Büchereien hinsichtlich der vorhandenen Möglichkeiten zur interkulturellen Öffnung der Einrichtungen beraten und vorhandene Bestände mehrsprachiger Bücher gesichtet. Fokussiert wurde hierbei von Beginn an vordergründig die Altersgruppe der Null- bis Sechsjährigen.
Zudem erfolgte zeitgleich innerhalb des KI der Aufbau eines interkulturellen, diversitätsbewussten und mehrsprachigen Bücherbestandes. Dieser wird seitdem für interne Angebotsformate genutzt, steht jedoch auch für den Verleih an Kindertageseinrichtungen und Familienzentren im Kreisgebiet zur Verfügung.
In einem zweiten Projektschritt Ende 2019 wurden zwei Lesewürmer angeschafft, die mit im Arbeitsfeld „Frühe Bildung / Elementarbereich“ auszuleihenden mehrsprachigen Büchern für Kinder bis zum Schuleintritt sowie Fachbüchern für pädagogisches Personal ausgestattet werden können. Die kreisansässigen Kindertagesstätten sind dazu eingeladen, „Lesi“ - so wurden die Bücherwürmer benannt - für bis zu vier Wochen auszuleihen und somit in einer den Kindern und deren Eltern vertrauten Umgebung das Thema „Lesen“ mit bis zu zehn bilingualen Büchern in deren Familiensprache und Deutsch als Sprache des Bildungssystems auf ansprechende, kindgerechte Weise näherzubringen.
Der Bücherwurm „Lesi“
Quelle: Kreis Heinsberg
Idealerweise wird durch den Bücherwurm das Interesse an Literacy (Vertrautheit mit Schriftsprache und im Umgang mit Büchern) und die generelle Leselust geweckt, denn für Kinder hat er aufgrund seiner farbenfrohen und kindgerechten Gestaltung eine ansprechende Wirkung. Neben der Funktion des Heranführens der Kinder mit Einwanderungsgeschichte an die deutsche Sprache und der Förderung ihrer Familiensprache, haben die Bücherwürmer eine werbewirksame Funktion: Sie sollen die „Interkulturelle Bibliotheksarbeit“ bekannt machen, indem bei jedem Entleihen durch pädagogisches Personal auf das Projekt sowie die Kooperationspartner mit deren mehrsprachigen Angeboten aufmerksam gemacht wird.
Projektausbau durch die „Mehrsprachige Bücherkiste“
Mithilfe finanzieller Mittel des Landesprogramms KOMM-AN NRW Teil I konnten zwei Jahre später 119 mehrsprachige Kinderbücher sowie neun Fachbücher hinsichtlich mehrsprachiger Erziehung und Sprachförderung angeschafft werden. Daneben wurde jede Bibliothek sowie der „Kunst-, Kultur- und Bücherkiste e.V.“ ebenfalls im Jahr 2021 mit einem Kamishibai-Bausatz (Erzähltheater) mit je 14 Kamishibai-Bildkartensets ausgestattet. Im Herbst 2022 konnten Erweiterungen mit bilingualen Büchern für Kinder im Grundschulalter sowie Kinderbüchern in ukrainisch-deutsch vorgenommen werden, die ebenfalls mittels des Förderprogramms finanziert wurden. Umworben werden die „Mehrsprachigen Bücherkisten“ auf den Internetseiten der Kooperationspartner sowie mittels durch das KI erstellten Flyern, die an vielen Lern- und Bildungsorten kreisweit ausliegen.
Bedeutsamkeit der Bibliotheken als non-formale Bildungsorte
Bibliotheken sind ein bedeutender Lern- und Begegnungsort. Umso wichtiger ist es, dass auch mehrsprachig aufwachsende Kinder die Möglichkeit erhalten, sowohl in ihrer Familien- als auch der Bildungssprache Deutsch Literacy-Erfahrungen machen zu können.
Gemeinsames Lesen und die dialogische Betrachtung von Büchern bietet nicht nur Freunde und schafft gemeinsame Zeit, sondern fördert zudem wichtige Vorläuferkompetenzen, um gleiche Teilhabe- und Bildungschancen im schulischen Regelsystem zu erfahren. Diese Vorläuferkompetenzen werden deshalb so bezeichnet, weil ihre Ausprägung im frühen Kindesalter Einfluss auf die Entwicklung der späteren Lese- und Schreibfähigkeiten haben und umfassen das Erkennen größerer sprachlicher Einheiten, wie z.B. die Fähigkeit, Wörter in Silben zu zerlegen oder Reime zu erkennen. Folglich gilt es, Bibliotheken als gut erreichbare Orte der interlingualen und somit auch interkulturellen Begegnung zu stärken und in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Aus diesem Grund wurden in den teilnehmenden Bibliotheken sowie dem ehrenamtlichen Verein „Mehrsprachige Bücherkisten“ installiert.
Die „Mehrsprachige Bücherkiste“ der Stadtbücherei Heinsberg.
Quelle: Kreis Heinsberg
Aus diesen können Bücher entliehen werden, die neben der deutschen Sprache den Text in der Familiensprache wiedergeben. Kinder und deren Eltern erhalten so die Möglichkeit, eine aktive Auseinandersetzung mit Schrift und Sprache zu erfahren und so auf fantasievolle Weise mehrsprachig Grenzen zu überwinden.
Vernetzung mit anderen Programmen
Daneben soll die Förderung der Literacy-Erziehung innerhalb mehrsprachiger Familien mittels einer engen Verzahnung der durch das KI Kreis Heinsberg koordinierten alltagsintegrierten Sprach- und Familienbildungsprogramme „Griffbereit“ und „Rucksack KiTa“ erfolgen. Die Elternbegleiterinnen, die eine Gruppe leiten, flechten regelmäßig das Thema „Lesen“ sowie den Besuch einer für die Gruppe erreichbaren Bibliothek in ihre Arbeit mit den teilnehmenden Familien ein. Am Programm Teilnehmende werden so an die Bedeutsamkeit des Lesens und Vorlesens sowie der vielfältig möglichen Auseinandersetzung mit Schrift und Sprache herangeführt. Darüber entwickelt sich bei den Eltern mit Einwanderungsgeschichte ein Verständnis über die Wichtigkeit des unterstützten multilingualen Spracherwerbs als Basis für eine gelingende Bildungsbiografie ihrer Kinder.
Gesamtgesellschaftliche Aspekte der „Interkulturellen Bibliotheksarbeit“
Gesamtgesellschaftlich bildet Mehrsprachigkeit die alltägliche Realität ab, sodass die selbstverständliche Verfügbarkeit von Multilingualismus in den Bibliotheken einen erheblichen Beitrag leistet, die Existenz vieler Sprachen und damit einhergehend Kulturen in der deutschen Gesellschaft als Normalität und Selbstverständlichkeit anzuerkennen und dies als Bereicherung für alle wertzuschätzen. Für Familien mit Einwanderungsgeschichte wiederum ergibt sich durch die Verfügbarkeit der eigenen Familiensprache in der Bibliothek vor Ort ein bedeutendes Moment der Identitätsschaffung und Persönlichkeitsbildung. Nicht zu vergessen ist das damit einhergehende Gefühl, zumindest noch ein Stück weit mit der Heimat verbunden zu bleiben.
Ausblick
Neben der aktiven Zusammenarbeit der Bibliotheken und des eingetragenen Vereins zwischen den Griffbereit- und Rucksack KiTa-Gruppen waren weitere gemeinsame Projekte und Veranstaltungen in Kooperation mit dem KI Kreis Heinsberg forciert. Pandemiebedingt konnten die konzeptionell geplanten Leseveranstaltungen der „Interkulturellen Bibliotheksarbeit“ nicht umgesetzt werden, da das Zusammenkommen größerer Gruppen nicht gestattet war. Damit einher ging die bedingte Möglichkeit, das Projekt kreisweit aktiv zu umwerben, da Adressatinnen und Adressaten während des Lockdowns oder der Betretungsverbote nicht gezielt angesprochen werden konnten. Zukünftig sollen mehrsprachige Vorleseangebote, Lesepicknicks oder multilinguale Bilderbuchkinos das gemeinsame Angebot abrunden und Mehrsprachigkeit als gelebte Normalität in die Gesellschaft transferieren. Darüber hinaus können je nach Bedarf der sozialräumlichen Verortungen entsprechend der demografischen Komponenten und vorherrschenden Familiensprachen Veranstaltungen durchgeführt werden. Daneben gilt es, die Bekanntheit des Projektes kreisweit auszubauen, sodass nicht nur Familien in Wohnortnähe der Bibliotheken von deren Angeboten Kenntnis erlangen.
Cindy Panter Quelle: Kreis Heinsberg |
Melanie Nießen |