Industrie 4.0 im Goldenberg Europakolleg – digitalisierte Produktionsumgebungen im Fachunterricht
Nicht erst seit der Pandemie mit der Notwendigkeit, auf digitale Kommunikationswege und remote Lehr-/Lernarrangements umzusteigen, stehen digitale Schlüsselkompetenzen in der Schule auf dem Stundenplan. Im Zuge der Digitalisierungsoffensive des Landes NRW wurde „Industrie 4.0“ als ein Schwerpunkt in der zukünftigen Schulentwicklung am Goldenberg Europakolleg festgelegt. Damit werden kontinuierlich geeignete Themenbereiche zur Digitalisierung in der beruflichen Bildung – beispielsweise mittels der Zusatzqualifikation „Digitale Fertigungsprozesse“ – in die Curricula implementiert. Neben den didaktisch-pädagogischen Konzepten ermöglicht der Digitalpakt, koordiniert durch den Rhein-Erft-Kreis, die Investition in die Ausstattung verschiedener Lernumgebungen.
Das Goldenberg Europakolleg ist ein Berufliches Gymnasium und Berufskolleg für Technik und Gestaltung in der Trägerschaft des Rhein-Erft-Kreises. Während am Standort Hürth die Schwerpunkte Maschinenbautechnik und Gestaltungstechnik angeboten werden, liegt am Standort Wesseling mit seiner Nähe zur chemischen Industrie der Fokus auf Chemietechnik. 2010 wurde das Goldenberg Europakolleg als erstes gewerblich-technisches Berufskolleg im Raum Köln zur Europaschule zertifiziert. Seit 2019 hat es den Status Talentschule. 2022 folgte die Aufnahme in das offizielle School FabLab-Netzwerk zur Förderung von MINT-Kompetenzen. Die Implementierung von digitalen Fertigungsprozessen findet in allen drei beruflichen Schwerpunkten am Goldenberg Europakolleg statt. Hier einige ausgewählte Good-Practice-Beispiele:
Chemietechnik (Höhere Berufsfachschule für Labor- und Verfahrenstechnik)
Mit einem Sonderpreis des Verbands der Chemischen Industrie wurde ein Unterrichtsprojekt am Standort Wesseling ausgezeichnet: Die Höhere Berufsfachschule für Labor- und Verfahrenstechnik nahm am Wettbewerb „DigiChem – Digitalisierung im Chemieunterricht in der Sekundarstufe II“ teil und überzeugte die Jury. In ihrem Beitrag bauten die angehenden Fachabiturienten und -abiturientinnen einen Titrationsapparat, den sie mit einer Steuerung automatisierten.
Mit Hilfe des Tablets kontrollieren die Berufsfachschüler das Steuerprogramm mit Aktions- und Programm-Ablaufblöcken zum Öffnen und Schließen der Bürette.
Quelle Dr. Jens Reinecke
Dieses Projekt zeigt, wie ein herkömmliches chemisches Analyseverfahren mit der modernen Informationstechnologie verknüpft wird. Der Motivationsschub, der bei den Lernenden geweckt wird, ist enorm. Somit wird aus klassischem Chemieunterricht ein kompetenzorientierter MINT-Unterricht. Anlässlich der Preisverleihung erklärte FCI-Geschäftsführerin Ulrike Zimmer, dass mit diesem Projekt eine dezidierte Forderung des VCI erfüllt wurde: Die Digitalisierung muss bereits früh in der Bildung einsetzen, um die Schülerinnen und Schüler optimal auf die Berufswelt vorzubereiten.
Gestaltungstechnik (fachbereichsübergreifend)
Seit 2022 ist das Goldenberg Europakolleg Teil des offiziellen School FabLab-Netzwerkes zur Förderung von MINT-Kompetenzen. Was steckt hinter dem Begriff FabLab? Er bezeichnet eine offene High-Tech-Werkstatt, in der unterschiedliche, mit CAD-Programmen selbst konstruierte Produkte von den Schülern bspw. auf digital gesteuerten 3D-Druckern, CNC-Maschinen oder Laser-Cuttern hergestellt werden. Auch Coding-Workshops finden statt. Hier werden die MINT-Kompetenzen von Jugendlichen durch eine interdisziplinäre Lernkultur gestärkt. Die Jugendlichen werden in die Grundlagen der digitalen Fabrikation eingeführt und lernen durch Projektarbeit, Eigeninitiative und Verantwortung zu übernehmen, Probleme zu lösen, in Teams zu arbeiten und Ideen zu kommunizieren.
Digitale Fabrikation zum Anfassen - der 3D-Drucker auf dem Hürther Wirtschaftstag 2022
Quelle: Maria Münster
Die Implementation des FabLabs findet am Goldenberg Europakolleg fachbereichsübergreifend statt. Es gibt feste Workshops, deren Termine immer ausgebucht sind. Darüber hinaus bietet das School FabLab mit einem sogenannten Makerspace-Tag eine schulweit offene Werkstatt für Projektarbeiten an. Es ist der ideale Ort, an dem die gesamte Schülerschaft und das Kollegium einen Zugang zu modernen Fertigungsverfahren sowie digitalen und analogen Ausstattungen haben und einen Einblick in zeitgemäße Arbeitsabläufe und -prozesse gewinnen.
Maschinenbautechnik (Zusatzqualifikation „Digitale Fertigungsprozesse/Remote Service“)
Im Rahmen der von der Bezirksregierung Köln geförderten Zusatzqualifikation „Digitale Fertigungsprozesse“ erwerben die Berufsschüler- und -schülerinnen grundlegende Kompetenzen zu digitalen Fertigungsprozessen und dem digitalen Wandel in produzierenden Unternehmen. Hierfür steht ein Unterrichtsvolumen von 200 Unterrichtseinheiten, bestehend aus Präsenz-Unterricht und Blended-Learning-Elementen, zur Verfügung.
In einer Lernsituation zum Modul „Smart Maintenance“ erlangen die Auszubildenden Kenntnisse zur Durchführung von Montage- und Instandsetzungstätigkeiten mit Einsatz von Augmented-Reality-Technologien. So lässt ein Monteur z. B. mittels einer 3D-Brille einen Experten, der in der Firmenzentrale sitzt, quasi durch seine Augen die vor ihm stehende Maschine sehen. Auf diese Weise kann der Experte in Echtzeit Hilfestellung zu komplexen Arbeitsschritten leisten.
Smart Maintenance - Experten und Montageteam arbeiten via Remote Service.
Quelle: Karl-Heinz Schulz
Beispielsweise bauen die Mechatroniker – aufgeteilt in Experten und Montagegruppen in getrennten Laborräumen – eine elektropneumatische Steuerung mittels Remote Service auf. Während die Expertengruppe über die benötigten Schaltpläne und einen aufgebauten Prototypen verfügt, hat die Montagegruppe in einem anderen Raum die Aufgabe, die vorgegebene Steuerung ohne diese Unterlagen mit Hilfe der Experten aufzubauen. Die Kommunikation findet ausschließlich digital über eine App und Smartphones bzw. Tablet statt.
Im Modul „Additive Fertigungsverfahren“ verfügt das Hürther Berufskolleg mit dem SLA-Drucker (Stereolithografie) über ein Alleinstellungsmerkmal im Kölner Raum. Der 3D-Drucker gibt Bauteile aus Kunststoff in Industrie-Qualität aus; er wird in der dualen Ausbildung, der Technikerschule und bei den Maschinenbautechnischen Assistenzberufen (FHR und AHR) eingesetzt, um Prototypen der von den Schülern und Schülerinnen konstruierten Bauteile und Baugruppen zu drucken.
Mit Abschluss des dritten Ausbildungsjahres erhalten die Auszubildenden in den Bildungsgängen Mechatronik und Industriemechanik im Rahmen der Zeugnisübergabe ein Zertifikat über die Zusatzqualifikation „Digitale Fertigungsprozesse“.
Mechatronik (Parametrisierung und EMV-Messungen an einem Frequenzumrichterantrieb)
In der Oberstufe der Mechatronik-Auszubildenden stehen u.a. im Lernfeld 11 mit dem Thema Frequenzumrichterbetriebene Drehfeldmaschinen in elektrischen Fahrzeugantrieben, Werkzeugmaschinen oder Robotern Inhalte von „Industrie 4.0“ auf dem Stundenplan. Deren Steuerung bzw. Regelung von Drehzahl und Drehmoment sind in einem großen Stellbereich möglich. Es gibt eine hohe Dynamik, d.h. es sind sehr schnelle Geschwindigkeits- und Drehrichtungswechsel machbar. Die Möglichkeit der Positionierung muss bedacht werden, d. h. der Motor kann nicht nur wie ein normaler Elektromotor drehen, sondern er kann exakt Drehwinkel anfahren und halten.
Die Mechatroniker stehen hierbei vor anspruchsvollen Aufgaben wie der Parametrisierung, d. h. das Anpassen und Einrichten der Frequenzumrichter (FU) auf den jeweiligen Motor und das Antriebsproblem sowie die fachgerechte Installation der Komponenten. Da Frequenzumrichter starke Störungen abstrahlen, welche die Funktion anderer elektronischer Geräte beeinträchtigen, ist deren Installation besonders anspruchsvoll. Geltende Normen schreiben die Berücksichtigung der „Elektromagnetischen Verträglichkeit“ (EMV) vor.
Hierzu nehmen die Auszubildenden einen FU-Antrieb in Betrieb, parametrisieren diesen zunächst mit dem angeschlossenen Asynchronmotor und führen Einmessprozeduren durch. Anschließend nehmen sie EMV-Messungen am FU-Antrieb vor. Hierfür wird ein Digitaloszilloskop mit einer simplen, ca. 0,5 m langen offenen Laborleitung verwendet, die als Empfangsantenne für die Störungen dient. Bei der anschließenden Untersuchung der Störungen, die der FU-Antrieb in Form von elektromagnetischen Wellen abstrahlt, ziehen sie wertvolle Schlüsse, wie sie bei der Installation von FUs vorgehen sollen.
Künstliche Intelligenz am Berufskolleg
„KI in der beruflichen Bildung“ ist der Titel des Papers, das Dr. Simon Heinen Ende März 2023 auf dem Frühjahrskongress der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft (GfA) in Hannover präsentieren konnte. Der Lehrer für Maschinenbautechnik am Goldenberg Europakolleg hatte hierfür mit Gerda Ramm vom ifaa-Institut für angewandte Arbeitswissenschaft kooperiert. Das ifaa ist ein Forschungsinstitut, das u.a. die Gestaltung der Arbeitswelt in der Metall- und Elektroindustrie als Schwerpunkt hat.
Das Goldenberg Europakolleg beteiligt sich als Valuepartner für die Perspektive der beruflichen Bildung an dem BMBF-geförderten Forschungsprojekt WIRKsam (Laufzeit: November 2021 – Oktober 2026, Förderkennzeichen: 02L19C600).
Im Rahmen des Projekts entsteht ein Kompetenzzentrum zur künstlichen Intelligenz im Rhein-Erft-Kreis, welches u.a. für die regionale Wirtschaft konkrete technische Entwicklungen aus dem Feld der künstlichen Intelligenz zugänglich macht. Dadurch soll der Strukturwandel der Region unterstützt werden.
In dem Beitrag stellten Dr. Heinen und Gerda Ramm ein Workshopkonzept vor, welches im Berufsschulunterricht in den Bildungsgängen Industriemechanik und Mechatronik am Goldenberg Europakolleg umgesetzt wurde. Die Auszubildenden erhielten dabei an einem einfachen praktischen Beispiel zur Vorhersage der Standzeit einer Schleifscheibe anhand von Fertigungs- und Qualitätsdaten Einblicke in die Funktionsweise von künstlicher Intelligenz in der Fertigungstechnik und möglicher weiterer Anwendungen von KI in der Metalltechnik.
In den kommenden Jahren wird dieses Grundlagenmodul verstärkt ausgebaut, um zusätzliche Anwendungen erweitert und im Unterrichtsangebot zu Industrie 4.0 verankert. Der Transfer in weitere Bildungsgänge ist ebenfalls vorgesehen.
Fazit
Frank Rock, Landrat des Rhein-Erft-Kreises, in dessen Trägerschaft das Goldenberg Europakolleg liegt, und selbst ehemaliger Schulleiter, begrüßt die Digitalisierung in der beruflichen Bildung auch im Hinblick auf den Strukturwandel und die regionale Entwicklung:
„Die Pandemie hat sicherlich dazu beigetragen, dass die Gesellschaft sich für digitale Prozesse öffnet und die Möglichkeiten erkennt, die Industrie 4.0 bietet. Eine zentrale Aufgabe unserer Berufskollegs ist es nun, Jugendliche durch zeitgemäße und motivierende Lernangebote zu digitalisierten Produktionsumgebungen für diese Arbeitsfelder zu qualifizieren. So werden sie zu den dringend benötigten Fachkräften von morgen.“
Maria Münster |
Dr. Simon Heinen |