Flutkatastrophe Juli 2021 - Das Pilotprojekt „Aufsuchende Hilfe“ im Rhein-Sieg-Kreis
Auch zwei Jahre nach der Flutkatastrophe ist der Rhein-Sieg-Kreis im Verbund mit seinen Wiederaufbaupartnern für die Flutbetroffenen da. In einem Pilotprojekt mit dem Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung des Landes NRW (MHKBD) soll über „Aufsuchende Hilfe“ die vielfältige Unterstützung fortentwickelt und intensiviert werden, passgenau abgestimmt auf die individuellen Hilfebedürfnisse der Betroffenen.
Die Katastrophe im Rhein-Sieg-Kreis
Durch Starkregen und Hochwasser wurden auch Teile des Rhein-Sieg-Kreises (RSK) von schweren Überschwemmungen betroffen. Zahlreiche Gebäude wurden beschädigt, zerstört, Straßen und Brücken weggespült, viele Menschen verloren ihr Zuhause, ihre Existenzen, neun ihr Leben.
Der Wiederaufbau
Bund, Länder, Kommunen und die Zivilgesellschaft arbeiteten von Anfang an eng zusammen, mobilisierten Mittel und Ressourcen, um Infrastrukturen wiederherzustellen, Schäden zu beheben und die Betroffenen beim Wiederaufbau zu unterstützen.
Unmittelbar nach der Katastrophe schütteten Bund und Länder Soforthilfen aus. Viele Bürgerinnen und Bürger nahmen diese als erste finanzielle Unterstützung dankbar an. Auch die Hilfsorganisationen und Wohlfahrtsverbände zahlten Gelder aus, hinzu kamen Spenden.
Um den Wiederaufbau voranzubringen, richteten Bund und Länder einen Wiederaufbaufonds in Milliardenhöhe ein. Betroffene können daraus sog. „Billigkeitsleistungen“ beantragen. Der Landrat des RSK, Sebastian Schuster, gründete kurz nach der Flutkatastrophe einen Wiederaufbaustab und eröffnete über das Kreisgebiet verteilt Beratungsbüros, um die Bürgerinnen und Bürger bei der Antragstellung zu unterstützen.
Wie sieht es heute aus?
Mehr als zwei Jahre sind seit der Katastrophe vergangen. Immer noch wird Unterstützung benötigt. Die Stabsstelle Wiederaufbau des RSK steht auch zwei Jahre nach der Flutkatastrophe im engem Austausch mit lokalen Partnern im Wiederaufbau vor Ort. Dazu zählen die Antragshelfenden in den kreiseigenen Beratungsbüros, die Hilfsorganisationen, Wohlfahrtsverbände, Vereine sowie die betroffenen Kommunen. Dabei hat sich gezeigt, dass viele Betroffene noch keine Wiederaufbauhilfe-Anträge gestellt haben, weil
Versicherungsverfahren noch nicht abgeschlossen und verbleibende Eigenanteilsreststummen nicht ausweisbar sind,
- es Zeit braucht, geeignete Handwerker zu finden,
- Schäden zeitverzögert auftreten,
- sich die Schadenssummen aufgrund von Baukostensteigerungen permanent verändern,
- aus Sicht mancher Betroffener ihr eigener Schaden „nicht so groß sei und es andere stärker getroffen habe“,
- die Antragstellung aufgrund von psychischer Instabilität oder aus Angst vor „Bürokratismus“ eine hohe Hürde darstellt.
Vor diesem Hintergrund war die Entscheidung von Bund und Ländern, die Antragsfrist für Privathaushalte um drei Jahre auf den 30.06.2026 zu verlängern richtig und unerlässlich!
Der RSK unterstützt nach wie vor bei der Antragstellung und begleitet Betroffene über die verschiedenen Phasen des Antragsverfahrens.
Das Projekt „Aufsuchende Hilfe“
Ausgangssituation
Im Rhein-Sieg-Kreis übertrifft die Zahl der kurz nach der Katastrophe gestellten Soforthilfe-Anträge die Zahl der späteren Anträge auf Wiederaufbauhilfe deutlich. Dies legt die Vermutung nahe, dass immer noch viele Betroffene keinen Wiederaufbauhilfe-Antrag gestellt haben. Dies trotz intensiver Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und Informationskampagnen. Um die Gründe hierfür aufzuklären und den Betroffenen weitere Hilfen zukommen zu lassen, wurde das Projekt „Aufsuchende Hilfe im RSK“ gegründet. Die im Folgenden geschilderten Verfahrensabläufe, insbesondere die enge Zusammenarbeit aller Hilfepartner mit dem Rhein-Sieg-Kreis, wurden sofort nach der Katastrophe gestartet. Sie wurden und werden im Rahmen des Projektes mit Begleitung des MHKBD bedarfsgenau fortentwickelt.
Projektteilnehmer
Die Zusammenarbeit des Wiederaufbaustabes mit den örtlichen Partnern war von Anfang an sehr gut. Alle Partner des örtlichen Wiederaufbauverbundes erklärten spontan ihre Bereitschaft, an dem Projekt mitzuwirken. Bei einem „Kick-Off-Meeting“ Anfang 2023, zu dem Landrat Schuster eingeladen hatte, waren Vertreterinnen und Vertreter des MHKBD, der Bezirksregierungen Köln, Arnsberg und Düsseldorf, die Handwerkskammer zu Köln, die Arbeiterwohlfahrt, der Bürgerverein Odendorf, die Caritas Rhein-Sieg, die Diakonie, das Deutsche Rote Kreuz, die Johanniter, die Malteser, der Sozialdienst katholischer Frauen und der der Männer anwesend. Schnell, war klar:
- Nach wie vor benötigen Flutbetroffene Hilfen in verschiedensten Lebenssituationen.
- Individuelle Hilfsbedarfe und – angebote müssen zusammengebracht werden.
- Nur im Zusammenwirken können wir erfolgreich sein.
Projektziele
Das Projekt „Aufsuchende Hilfe“
Quelle: Rhein-Sieg-Kreis
- Flutbetroffene an ihrem Wohnort aufsuchen,
- persönliche Gespräche führen, um zu erfahren, wie es den Menschen geht und wie im Einzelfall geholfen werden kann,
- über das breit gefächerte Hilfsportfolio und die Hilfepartner im RSK informieren.
Projektausführung
Die Organisation der aufsuchenden Hilfe erfolgt über einen regelmäßig tagenden Arbeitskreis (AK) unter Federführung der Stabsstelle Wiederaufbau mit Vertreterinnen und Vertretern der Organisationen der Zivilgesellschaft, insbesondere des Bürgervereins Odendorf.
Das Projekt gründet auf drei Säulen:
- Ansprachekontakt zu Betroffenen herstellen („Haustürgespräche“)
- Einbindung/Aktivierung von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren (z.B. Ärztinnen und Ärzte, Ortsvorsteherinnen und Ortsvorsteher)
- Präsenz vor Ort (Veranstaltungen/örtliche Anlaufstellen)
Zentral wirksames Instrument ist bei allem eine gute und intensive Öffentlichkeitsarbeit.
Vorrangiges Projektziel ist es, allen Betroffenen finanzielle Hilfe zu vermitteln, darüber hinaus aber auch weitere Hilfebedarfe zu erkennen und Unterstützung zu vermitteln. Um eine Übersicht zu erhalten, welche Hilfsangebote durch wen im RSK erbracht werden, erarbeitete der AK einen umfassenden Leistungskatalog als Grundlage für die aufsuchenden Beraterinnen und Berater, um bei Erkennung eines speziellen Hilfebedarfes vor Ort passgenau Hilfe vermitteln zu können.
„Im Verbund gemeinsam stark“, ein Flyer informiert über die verschiedenen Hilfen im Kreisgebiet.
Quelle: AktionDeutschlandHilft/MalekSayadi
Zur persönlichen Adressierung der Betroffenen wurden mehrere ineinandergreifende Informationsformate entwickelt:
- Infoschreiben (in leichter Sprache, Betroffene können ihren Hilfebedarf an den Wiederaufbaustab rückmelden)
- Flyer „Im Verbund gemeinsam stark“ (Vorstellung aller Wiederaufbaupartnerinnen und -partner mit ihren Hilfsangeboten)
- Telefon-Hotline des Wiederaufbaustabes (zur Vermittlung passgenauer Hilfen)
- Broschüre für die Multiplikatorinnen und Multiplikatoren (gesamtes Hilfsportfolio en detail)
Teams der „Aufsuchenden Hilfe“, gehen von Tür zu Tür, nicht vor 17 Uhr, um möglichst viele Betroffene an ihrem Wohnort anzutreffen. Nach und nach sollen möglichst viele Gebiete besucht werden. Der RSK vereinbart mit dem MHKBD eine Kooperation, das MHKBD begleitet das Projekt und unterstützt es finanziell.
Seit Projektbeginn führte die aufsuchende Hilfe sieben Aktionen durch. Zwei weitere Aktionen sind in Planung. Jeweils zwei bis neun Mitarbeitende suchten in verschiedenen Kommunen 520 Haushalte auf und verteilten rund 2.500 Flyer. Bei jeder Aktion wurden vielfältige Bedarfe erkannt. Individuelle Unterstützung konnte zügig geleistet werden.
Projekterfahrungen
Da die Schwere der Betroffenheit und die sozialen Strukturen der Betroffenen (Demographie, Bildungsstand, Sprachkenntnisse) sehr verschieden sind, sind die Anforderungen an Quantität und Qualität der aufsuchenden Hilfe vielfältig. Eine Grundstruktur im Projektablauf ist notwendig, ein zu starres System hingegen nicht zielführend. Flexibilität ist gefragt, Anpassungen im Verfahrensablauf müssen jederzeit möglich sein.
Betroffene berichten vor Ort über ihre Schäden.
Quelle: Rhein-Sieg-Kreis
Infomaterial per Hand überreicht, auch Hinweise auf Veranstaltungen gehören dazu
Quelle: AktionDeutschlandHilft/MalekSayadi
Fortwährende Hilfebedarfe werden im persönlichen Gespräch erkannt. Unterstützung wird direkt vor Ort vermittelt. Oftmals reicht das „offene Ohr“, fast alle Angetroffenen erzählen ihre „Flutgeschichte“. Nicht selten werden die aufsuchend Helfenden mit sehr emotionalen Reaktionen konfrontiert, mit psychischer Instabilität oder auch Traumatisierungen. Daher empfiehlt es sich, hierfür fachlich geschulte Mitarbeitende bereit zu halten. Die aufsuchende Ansprache wirkt häufig wie ein kommunikativer Türöffner. Betroffene fühlen sich hierdurch wieder aktiviert und wenden sich im Anschluss nicht nur selten mit weiteren, multiplen Hilfsanliegen an den Wiederaufbaustab und die Organisationen.
Fazit: Das Projekt kommt an!
- Die aufsuchende Hilfe ist sehr zeit- und personalintensiv.
- Die Zusammenarbeit im Verbund mit den lokalen Wiederaufbaupartnern ist der Garant für den Erfolg.
- Die Betroffenen vor Ort persönlich anzusprechen, in ihrer Not zu hören, Hilfsmöglichkeiten konkret zu machen, wird von Vielen als positive Zukunftsperspektive wahrgenommen.
Was wir nicht vergessen dürfen, ist die zeitliche Dimension:
Die Katastrophe richtete in nur wenigen Stunden verheerende Schäden an. Die Not der Menschen und die an sie gerichtete Hilfe durch Wiederaufbau wird uns noch Jahre beschäftigen. Dafür ist der RSK aufgestellt, daran werden wir weiterarbeiten!
Ursula Thiel |
Manuela Mischker |