Erste Schritte in ein eigenständiges Leben
Für Meike (Name geändert) gibt es kein Zurück mehr. Unter keinen Umständen könne und wolle sie wieder zu Hause bei ihren Eltern leben. Aber wie das gehen soll ohne Geld, ohne Arbeit, ohne eigene Wohnung, ohne Hoffnung – das weiß die verzweifelte 23-Jährige nicht. Die Freundin, bei der Meike übernachten kann, überzeugt sie schließlich, sich Hilfe zu suchen und anzunehmen. Sie rät ihr, sich an „OffRoad“ zu wenden. „OffRoad“ ist eine Anlaufstelle für Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen mitten in Recklinghausen, ganz in der Nähe von Bus- und Hauptbahnhof. Hier findet Meike offene Türen, Menschen die ihr zuhören, denen sie vertraut und die sie dabei unterstützen, ihr Leben in neue Bahnen zu lenken.
„Meike war in einer sehr schwierigen Situation, als sie zu uns kam“, berichtet Anja Blodau, Maßnahmenkoordinatorin des Vereins Jugend in Arbeit e.V., der seit 2018 das Projekt „OffRoad“ mit einem pädagogischen Team betreibt. Meikes Mutter ist alkoholabhängig und an Diabetes erkrankt. Der Vater setzt sie unter Druck, sie müsse ihre Mutter versorgen und pflegen. Eine Ausbildung zur Pharmazeutisch-technischen Assistentin schließt Meike erfolgreich ab. Doch aufgrund der häuslichen Situation nimmt sie im Anschluss keine Arbeit auf, sie bleibt abhängig vom Geld der Eltern. Als sie während der Corona-Pandemie wegen eines komplizierten Beinbruchs mehrere Wochen im Krankenhaus liegt, besucht sie niemand. Sie wird depressiv. Eine mehrwöchige Therapie in einer Tagesklinik folgt.
Anja Blodau, Maßnahmenkoordinatorin von Jugend in Arbeit e.V.
Quelle: Jobcenter Kreis Recklinghausen
Meike will zu Hause ausziehen, hat aber Angst und ein schlechtes Gewissen, ihre Mutter zu verlassen. Als sie dennoch über ihren Wunsch spricht, wird ihr Vater aggressiv und gewalttätig, er schlägt mehrfach auf sie ein. Meike flieht zu ihrer Freundin. „Die blauen Flecken an Meikes Armen und ihrem Hals sind der Sozialarbeiterin beim ersten Kontakt bei uns aufgefallen“, sagt Anja Blodau. In sensiblen Gesprächen bei diesem ersten und bei weiteren Treffen habe Meike schließlich so viel Vertrauen gefasst, ihre Situation nach und nach zu schildern. „So konnten wir ihr erste Hilfen in der akuten Situation anbieten und haben ihr auch nahegelegt, die Folgen des gewalttätigen Übergriffs durch eine anonyme Beweissicherung in einer nahegelegenen Klinik zu dokumentieren.“
Meikes Weg ins „OffRoad“, das sind ihre ersten Schritte in ein eigenständiges, neues Leben. Für Menschen wie Meike hat das Jobcenter Kreis Recklinghausen die Möglichkeit, Projekte wie „OffRoad“ gemeinsam mit zertifizierten Trägern zu initiieren und aus Bürgergeld-Mitteln zu finanzieren. Grundlage hierfür ist seit 2016 die „Förderung schwer zu erreichender junger Menschen“ (SGB II, §16h). Die Förderung richtet sich an Jugendliche und junge Erwachsene bis 25 Jahre, die in schwierigen Lebenssituationen sind, den Weg in die sozialen Hilfssysteme aber nicht oder noch nicht gefunden haben.
Probleme in der Familie, im sozialen Umfeld oder in der Schule, Kontakt mit Drogen oder Alkohol, Schulden oder drohende und bereits eingetretene Wohnungslosigkeit: Aus vielen Gründen geraten Jugendliche in prekäre Lebenslagen. Aus Unkenntnis, falscher Scham, Vorbehalten gegenüber behördlichen Einrichtungen oder schlicht Überforderung in einer akuten Krise nehmen sie die vorhandenen Hilfsangebote, auf die sie einen Anspruch haben, nicht wahr. Für die Akteure im Hilfssystem sind sie schwer oder gar nicht mehr zu erreichen, wenn sie zum Beispiel keine Wohn- oder Meldeanschrift mehr haben.
Projekte, wie „OffRoad“ in Recklinghausen, bieten den Jugendlichen erheblich mehr, als einen einfachen Zugang in Treffpunkten oder durch aufsuchende Sozialarbeit und eine vertrauensvolle Ansprache. „Entscheidend für ein erfolgreiches Angebot ist es, dass die Projekte vor Ort eng mit den kommunalen Jugendhilfen kooperieren und in den Netzwerken von Trägern der Jugend- und Sozialhilfe eingebunden und etabliert sind. So lassen sich bedarfsgerechte Maßnahmen entwickeln, in denen für die individuellen Problemlagen der jungen Menschen die passenden Lösungen bereitgestellt oder vermittelt werden können“, sagt Nicole Heier, Leiterin des Jobcenters Kreis Recklinghausen. „Das ist eine Stärke unseres kommunalen Jobcenters im Kreis Recklinghausen. Mit Bezirksstellen in allen zehn kreisangehörigen Städten sind wir dezentral organisiert. Die Jobcenter-Mitarbeitenden sind in die kommunalen Netzwerke eingebunden, arbeiten eng mit den beteiligten Behörden sowie den jeweiligen Trägern zusammen. Wir vermeiden Doppelstrukturen und nutzen die Kompetenzen vor Ort.“
Kerstin Kampmann (v.l., Geschäftsleitung), Anja Blodau (Maßnahmenkoordination) und Diplom-Sozialpädagogin Hasret Balanyan von Jugend in Arbeit e.V. vor dem „OffRoad“ in der Innenstadt von Recklinghausen.
Quelle: Jobcenter Kreis Recklinghausen
Aktuell bieten fünf Bezirksstellen des Jobcenter Kreis Recklinghausen vergleichbare, auf die jeweilige örtliche Situation abgestimmte Projekte zur Förderung schwer zu erreichender junger Menschen an: in Recklinghausen („OffRoad“) und in Castrop-Rauxel („Fit für die Zukunft“) mit dem Träger Jugend in Arbeit e.V.; in Marl („Reset“) und in Gladbeck („Restart“) mit dem Träger rebeq GmbH der Arbeiterwohlfahrt; in Dorsten („Come on“) mit dem Träger Dorstener Arbeit gemeinnützige Beschäftigungsgesellschaft. „Der Gesetzgeber hat 2016 mit der Förderung schwer zu erreichender junger Menschen eine gesetzliche Lücke geschlossen“, sagt Christian Bugzel, stellvertretender Leiter und Bereichsleiter Markt und Integration der Jobcenter-Bezirksstelle Recklinghausen, die 2018 mit ihrem U25-Team und dem Träger Jugend in Arbeit e.V. das kreisweit erste Projekt dieser Art aufgebaut und etabliert hat. „So erreichen wir jetzt auch junge Menschen, die noch nicht im Leistungsbezug des Bürgergeldes sind, aber Unterstützung benötigen. Es ist wichtig, die jungen Menschen frühzeitig zu erreichen, sie zu stärken, sie in Ausbildung und Arbeit zu bringen und ihnen die Chance auf ein eigenständiges Leben zu geben, um eine langfristige Abhängigkeit vom Bürgergeld zu verhindern“, so Christian Bugzel.
Das Beispiel von Meike aus Recklinghausen verdeutlicht, wie wichtig eine enge und etablierte Zusammenarbeit für eine erfolgreiche Förderung ist: „Bei Meike konnten wir nach den ersten Gesprächen feststellen, dass sie sehr wahrscheinlich einen Anspruch auf Bürgergeld-Leistung hat. Wir haben sie als Teilnehmerin in das Projekt aufgenommen. In den folgenden Monaten haben wir alle weiteren Schritte gemeinsam mit ihr geplant und sie nach und nach bei der Umsetzung unterstützt und zu den Terminen mit verschiedenen Trägern von Leistungen oder Behörden begleitet“, sagt Anja Blodau von Jugend in Arbeit.
Diplom-Sozialpädagogin Hasret Balanyan von Jugend in Arbeit e.V. ist seit 2019 im Projekt „OffRoad“ Ansprechpartnerin für Hilfe suchende Jugendliche. „Unsere Anlaufstelle ist wichtig für Recklinghausen und aus der Stadt gar nicht mehr wegzudenken“, sagt sie. Unterstützung wünscht sie sich vor allem bei der Suche nach Wohnraum für die jungen Erwachsenen: „Wir müssen im Gespräch mit Vermietern viel Überzeugungsarbeit leisten, und der überhaupt noch zur Verfügung stehende Wohnraum immer knapper“, sagt sie.
Quelle: Jobcenter Kreis Recklinghausen
Existenzsichernde Leistungen
Die Mitarbeitenden von „OffRoad“ begleiten Meike bei einem Termin mit den Soziallotsen der Stadt Recklinghausen zur Beratung im Vorfeld eines Leistungsantrages. Sie unterstützen sie beim Zusammenstellen der Unterlagen für einen Bürgergeld-Antrag beim Jobcenter in Recklinghausen. Der Leistungsanspruch wird festgestellt, Bürgergeld-Leistungen werden bewilligt.
Wohnsituation
Vor dem Hintergrund ihrer sehr belastenden persönlichen Situation informiert sich Meike auf Anraten des Projekt-Teams in einem gemeinsamen Termin bei der Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen über ambulant betreutes Wohnen. Das Team unterstützt sie bei der Besorgung eines Wohnberechtigungsscheins bei der Stadt Recklinghausen, beim Antrag auf Übernahme der Kosten der betreuten Wohnform beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe sowie bei der Wohnungssuche, der Kontaktaufnahme bei geeigneten Angeboten und Besichtigungsterminen. Meike findet zeitnah eigenen Wohnraum, eine Sozialarbeiterin des ambulant betreuten Wohnens unterstützt sie.
Gesundheit
Aufgrund ihrer psychischen Belastung bittet Meike um Unterstützung bei der weiteren medizinischen Versorgung und bei der Suche nach therapeutischen Hilfen. Weil sich die 23-Jährige in der aktuellen Situation überfordert fühlt, stellt sie mit den Mitarbeitenden beim Amtsgericht Recklinghausen einen Antrag auf gesetzliche Betreuung, um für die nächsten zwei Jahre in wichtigen Fragen und Angelegenheiten Sicherheit zu haben.
Arbeit
Das Projekt-Team begleitet Meike zum Erstgespräch über ihre berufliche Zukunft beim Jobcenter in Recklinghausen. Meike vereinbart mit ihrer Fallmanagerin im Jobcenter die Teilnahme an einem Einzelcoaching zur weiteren Stabilisierung ihrer Lebenssituation sowie zur mittelfristigen Planung und Entwicklung ihrer beruflichen Perspektiven.
Meikes Beispiel verdeutlicht, wie viele Fäden zusammenzuführen und zu koordinieren sind, in enger Abstimmung mit den hilfesuchenden Jugendlichen und ihren Bedürfnissen, um einen erfolgsversprechenden Weg in ein eigenständiges Leben zu ebnen. „Dabei ist jeder Fall anders“, sagt Anja Blodau von Jugend in Arbeit. „Und leider werden es immer mehr junge Menschen, die Hilfe brauchen.“ Den zuletzt spürbaren Anstieg führt sie auch zurück auf die aus ihrer Sicht vor allem für gefährdete Jugendliche „verheerende Situation“ während der Corona-Pandemie. Lockdowns und Kontaktbeschränkungen hätten belastete Situationen noch deutlich zugespitzt.