Der Kreis Steinfurt trotzt der Krise mit ungewöhnlichen Maßnahmen, unkonventionellen Ideen und neuen Kooperationen

16. Februar 2021: Von Kirsten Weßling, Pressesprecherin Kreis Steinfurt

„Vor die Lage kommen und mutig sein“: Das ist der Leitgedanke der Krisenmanager im Kreis Steinfurt von Beginn der Corona-Pandemie an. Schon früh setzten die Verantwortlichen auf einen intensiven Dialog und regelmäßigen Austausch unterschiedlicher Experten, um bestmögliche Lösungen für die vielen Herausforderungen, die diese Krise mit sich bringt, zu finden.

Beinahe rührend klingt heute die Pressemeldung vom 8. März 2020: „Auch im Kreis Steinfurt ist jetzt erstmals ein Coronavirus-Infektionsfall nachgewiesen worden.“ Zwei Tage später waren es vier. Ein Jahr danach sind es um die 10.000. In der Zwischenzeit hat die Kreisverwaltung Steinfurt gelernt und verinnerlicht, was es heißt, „in der Lage zu leben“.

Dort, wo sonst politische Diskussionen stattfinden, im Kleinen Sitzungssaal des Steinfurter Kreishauses, ziehen Ende Februar letzten Jahres IT-Experten aus dem Haus eilig meterlange Kabel, stellen Laptops, Drucker und Telefone auf. Schon zu diesem Zeitpunkt ist den Akteuren um Krisenstabs-Leiter Dr. Martin Sommer, seit Oktober 2020 auch Landrat des Kreises, klar: Das wird keine kurzfristige Sache! Das schafft kein Gesundheitsamt alleine! Der Krisenstab wird einberufen und konsequent nach Vorgaben des Krisenstabs-Erlasses – Laien würden sagen „interdisziplinär“ - besetzt.


Zu Beginn drei Mal täglich, seit dem Sommer 2020 drei Mal in der Woche tagt der Krisenstab des Kreises Steinfurt (hier mit NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann als Gast), um sich über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten und notwendige Maßnahmen abzusprechen.
Quelle: Kreis Steinfurt

Er tagt in den ersten turbulenten Wochen der Pandemie drei Mal täglich, seit dem Frühsommer bis heute drei Mal wöchentlich. Es sind Kleinigkeiten, die sichtbar machen, wie sich die Pandemie durchs Kalenderjahr zieht: Die letzten Schoko-Osterhasen – ein Dankeschön der Behördenleitung – müssen noch als Nerven-Nahrung herhalten, da bevölkern schon die Nikoläuse die Tische des Stabsraums. Wie es aussieht, zieht in Kürze die nächste Generation Osterhasen ein.

Dialog und Vertrauen
Von Tag 1 der Krise an reift bei allen Verantwortlichen die Erkenntnis: Sowas wie eine Pandemie können wir nur zusammen mit vielen in den Griff bekommen. Deshalb bittet Dr. Sommer neben Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Ämter der Kreisverwaltung wie Gesundheit, Ordnung, Recht, Personal, Schule, Jugend, Soziales, Rettungsdienst, Medienarbeit auch Polizei, Kreisbrandmeister (KBM) und Hilfsorganisationen in den Krisenstab. So kann etwas wachsen, das der Schlüssel ist für kreative Ideen und effektive Lösungen: Dialog und Vertrauen.

Vertrauen in die Professionalität der Kreisverwaltung beweist auch die Kreispolitik: Sie stellt kurzfristig und unkompliziert eine Summe zur Verfügung, die den Akteuren zumindest den Druck nimmt, (lebens-)notwendige Entscheidungen wegen finanzieller Engpässe nicht treffen zu können. Unterm Strich ist der „Topf“ längst nicht ausgeschöpft worden.

Die intensiven Kontakte, die die unterschiedlichen Ebenen der Kreisverwaltung mit Institutionen in der Region auch außerhalb von Krisenzeiten pflegen, sind jetzt mit Gold nicht aufzuwiegen: Kommunen, Krankenhäuser, LWL, Pflege-Einrichtungen, Hilfsorganisationen, Unternehmen… Ganz praktisch heißt das: Jeder im Krisenstab kennt jemanden, den er schnell anrufen kann. Dies beschleunigt so manche Lösungsfindung.

Zwei Füchse behalten die Übersicht und die Fäden in der Hand: Sozial- und Gesundheitsdezernent Tilman Fuchs und Dr. Karlheinz Fuchs, ärztlicher Leiter Rettungsdienst beim Kreis Steinfurt. Sie sind es, die die Diskussionen moderieren, Probleme abfragen, Herausforderungen benennen. Davon gibt es gerade in der ersten Zeit täglich neue. Wie können wir es angehen? Wer macht was? Wer ruft wen an?

Sie sind einfach da
Beispiel Desinfektionsmittel: Heute kaum mehr vorstellbar, aber in den ersten Wochen wird es richtig knapp. Die Kreis-Apothekerin erhält im Krisenstab den Auftrag, sich „etwas auszudenken“. Kurzerhand stellt sie den Kontakt zu regionalen Brennereien her, die Ethanol besitzen, aus dem Desinfektionsmittel zum großen Teil besteht. Dieses Ethanol wird dann in den Apotheken zum Endprodukt verarbeitet. Der Krisenstab verteilt 5-Liter-Kanister zur Abfüllung der Desinfektionsmittel, die dann an die Einrichtungen des Gesundheitswesens abgegeben werden können. „Sorgst du bitte dafür, dass wir die Fahrzeug-Kennzeichnung für Gefahrenstoffe bekommen“, ruft die Apothekerin dem KBM zu. „Klar!“ Schon auf dem Weg. Wo er die zahlreichen Kanister besorgt hat, die die nun am Kreishaus stationierte Einsatzleitung Feuerwehr anliefert, fragt keiner mehr. Sie sind einfach da. Wie so vieles in den nächsten Tagen und Wochen.

„Vor die Lage kommen und mutig sein“: Das ist das Mantra, das die Krisenmanager im Kreis von Beginn der Pandemie an antreibt. Herausforderungen frühzeitig erkennen, am besten schon, bevor sie auftreten. Zwei Szenarien zeichnet Dr. Fuchs bereits Mitte März: Wer kümmert sich um Pflegebedürftige, die zuhause betreut werden, deren Angehörige an Corona erkranken oder deren Pflegedienst wegen Infektionen ausfällt? Und: Wie können wir die Krankenhäuser entlasten von infizierten Patienten, die keine intensive medizinische Betreuung mehr benötigen, aber noch zu krank sind, um nach Hause zu gehen?

Schwierige Aufgabe
Sogleich starten die Planungen. In enger Zusammenarbeit mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) richtet die Gefahrenabwehr des Kreises ein „Pflegelazarett“ in der LWL-Klinik in Lengerich ein. Es ist so konzipiert, dass dort bis zu 200 nicht infizierte Pflegebedürftige betreut werden können – überwiegend von Freiwilligen der Hilfsorganisationen mit Unterstützung durch professionelle Pflegekräfte.

Das ehemalige Krankenhaus in der Gemeinde Laer hält der „Suchtrupp“ des Krisenstabs für gut geeignet, um das andere Projekt umzusetzen: Im Marienhospital wird ein „Fieberlazarett“ eingerichtet mit bis zu 200 Liegeplätzen. Für die Ehrenamtlichen der Hilfsorganisationen, die die Patienten hier betreuen sollen, eine äußerst belastende Aufgabe: Denn hier handelt es sich ausschließlich um mit dem Corona-Virus infizierte Menschen.


Das ehemalige Krankenhaus in Laer wurde schon frühzeitig so hergerichtet, dass mit dem Coronavirus infizierte Menschen dort versorgt werden können.
Quelle: Kreis Steinfurt

Beide Einrichtungen werden – zum Glück – während der beiden Wellen nur in Teilen in Anspruch genommen. Gerne kommt der Kreis Steinfurt im Sommer mit seinem Fieberlazarett den Kreisen Warendorf und Gütersloh zu Hilfe, als es darum geht, infizierte Tönnies-Mitarbeiter gut unterzubringen. Ebenfalls erhalten hier die Bewohnerinnen und Bewohner einer vom Virus hart getroffenen Pflege-Wohngemeinschaft Obdach.

Kein Kavaliersdelikt
Auch auf eine etwas anders gearteten Problematik reagiert der Krisenstab des Kreises Steinfurt mit einer eher ungewöhnlichen Maßnahme: Im Laufe der Pandemie-Monate berichten die Städte und Gemeinden immer mal wieder von hartnäckigen Quarantäne-Brechern, denen auch mit Warnungen und Bußgeldern nicht beizukommen ist. Quarantäne-Brechen ist kein Kavaliers-Delikt und kann im schlimmsten Fall tödliche Folgen haben. Der Kollege aus dem Kreis-Ordnungsamt sucht nach einer Lösung und meldet dem Krisenstab nach ein paar Tagen Vollzug: In ländlicher Umgebung wurde ein leerstehendes Einfamilienhaus gefunden, das die CAJ-Werkstatt vorübergehend zur Verfügung stellt. Kommunale Ordnungsbehörden können nun hier Menschen zeitweise unterbringen und versorgen, die ihre Quarantäne-Anordnung penetrant missachten – natürlich erst nach Entscheid des zuständigen Amtsgerichtes. Fünf Plätze stehen zur Verfügung, im Ergebnis musste keiner bislang in Anspruch genommen werden.

Dies sind nur einige Beispiele von vielen, dass dieser Pandemie nur mit neuen und manchmal eben auch unkonventionellen Ideen beizukommen ist - eine Gruppe für möglicherweise in Obhut zu nehmende infizierte oder quarantänisierte Kinder und Jugendliche aller fünf Jugendämter im Kreis und mit vielen Trägern der Jugendhilfe gemeinsam auf die Beine gestellt, ist ein weiteres. Mitarbeiter des Krisenstabes entwickeln, gestalten und veröffentlichen mit Unterstützung durch die Medienabteilung des Kreises „Corona-Karl“, ein Bilderbuch für Kindergartenkinder, das diese spielerisch auf Corona-Abstriche in den Kitas vorbereiten und die Angst nehmen soll – das Buch wird zum Renner und erhält überregionale Aufmerksamkeit.

Auf links gedreht
Nach den ersten Wochen der Pandemie, als große Teile des Kreishauses quasi „auf links“ gedreht, innerhalb kürzester Zeit Ermittlungsdienst, Lagebüro, Personalpools und Experten-Runden installiert wurden (und das aus dem bestehenden Personalbestand), reifte innerhalb der Behördenleitung die Erkenntnis: Hier ist eine fest verankerte Struktur vonnöten – eine Struktur, die Expertenwissen aus unterschiedlichen Bereichen zusammenführt und zuverlässige Arbeitsabläufe ermöglicht. Die Stabsstelle Corona wird konzipiert, die Leitung übernimmt Dr. Karlheinz Fuchs. Es gibt kontinuierliche Ansprechpartner, zusätzliche Stellen, Vertretungsregelungen, ein Organigramm und damit Entlastung für die Krisenstabs-Besatzung, die mittlerweile ihre Belastungsgrenze erreicht hat. Die Bekämpfung der Corona-Pandemie wird fester professioneller Bestandteil des Aufgabenspektrums der Kreisverwaltung.


Kirsten Weßling
Quelle: Kreis Steinfurt