Das ANNA-Projekt des Jobcenters Kreis Warendorf und die Ressource 2

07. April 2022: Von Dr. Ansgar Seidel, Leiter Jobcenter, Kreis Warendorf

Im Projekt ANNA werden 30 (Allein)Erziehenden-Bedarfsgemeinschaften im Auftrag des kommunalen Jobcenters Kreis Warendorf engmaschig betreut. In der Maßnahme erproben wir vielfältige Ansätze und erzielen gute Vermittlungserfolge. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht die Stärkung der sog. Ressource 2 (soziales Umfeld bestehend aus Freunden, Bekannten, erweiterter Familie…). 

Rahmendaten zum Projekt
ANNA steht für „(Allein)Erziehende und ihren Nachwuchs Nachhaltig Aktivieren“. Dabei werden 30 (Allein)Erziehenden-Bedarfsgemeinschaften mit einem Schlüssel von 1:10 durch den Träger Chance e.V. engmaschig betreut, und zwar durch drei Coaches und eine Koordinationsstelle. Auftraggeber ist das kommunale Jobcenter Kreis Warendorf. Die Sozialräume sind die Gemeinde Everswinkel und die Stadt Ennigerloh. Ziel von ANNA ist es zum einen, die 30 Bedarfsgemeinschaften bestmöglich zu betreuen, um generationenübergreifende Hilfebedürftigkeit zu durchbrechen. Daher sind wichtige Ziele die Aufnahme bzw. Ausweitung von Beschäftigung. Darüber hinaus sollen die im Sozialraum vorhandenen Hilfsangebote transparent gemacht, miteinander vernetzt und der Wissenstransfer zwischen ihnen (digital) beschleunigt werden. Zugangshindernisse zu den Hilfsangeboten wollen wir identifizieren und abbauen. Dies erfolgt in bewusster Abkehr von der Behördenperspektive. Das Projekt hat eine Laufzeit von August 2020 bis November 2022.


Reflexionstag ANNA “, Personen von links nach rechts: Karl-Heinz Hagedorn (G.I.B.), Dr. Frank Nitzsche (G.I.B.), Susanne Beier (Jobcenter), Kristin Degener (MAGS), Phanmika Sua-Ngam-Iam (Jobcenter), Dr. Ansgar Seidel (Jobcenter)
Quelle: Kreis Warendorf

Susanne Beier, Sachgebietsleiterin Aktivierende Leistungen im Jobcenter Kreis Warendorf: „Der Hemmnis-Kombination vieler Leistungsberechtigten kann mit allen beteiligten Akteuren gemeinsam am besten begegnet werden.“

Zielgruppe
Die Gruppe der (Allein)Erziehenden bedarf und verdient unsere ganz besondere Unterstützung. (Allein)Erziehende im SGB II gehen zwar überproportional häufig Beschäftigungen nach, diese sind aber nur im unterdurchschnittlichen Maße bedarfsdeckend. Nur 3,2 % der Alleinerziehenden bei uns im Leistungsbezug erzielen momentan ein Einkommen von mehr als 1.300 €. Diese Arbeitsverhältnisse tragen nicht nur zu einer Verstetigung von Armut bei, sondern es bleiben auch wichtige Potentiale zur Abmilderung des Fachkräftemangels ungenutzt. Außerdem legt unser Jobcenter einen besonderen strategischen Schwerpunkt auf Bedarfsgemeinschaften mit Kindern – getreu unserem Motto: „Je früher ein Euro investiert wird, umso größer ist seine Wirkung.“

Werkzeuge
Mit ANNA erproben wir neue Methoden. Die oft bekundete Fehlerkultur ist tatsächlich erwünscht, da häufig gerade Misserfolge aufzeigen, bei welchen Hemmnissen verstärkt anzusetzen ist. Zu den ANNA-Werkzeugen zählt z.B. die sog. user journey, durch die Perspektivwechsel möglich und Zugangshindernisse identifiziert werden. Nachhaltigkeit implementieren wir mit möglichst papierlosem Arbeiten, E-Mobilität und einem starken Transfergedanken, indem wir intensiv prüfen, was wir wie auf das Regelgeschäft übertragen können. Ein Schwerpunkt des ANNA-Projektes ist die abgestimmte gemeinsame Fallberatung zwischen den verschiedenen Hilfeakteuren. Diese umfasst die optimierte Verweisberatung u.a. durch zielgerichteten und (digitalen) Datentransfer. Fortschritte zu erreichen, stellt sich hierbei leider als sehr zäh dar und wird auch Gegenstand unserer künftigen Projekte sein.

Ressourcenorientierte Herangehensweise nach Subsidiarität
Breiteren Raum soll in diesen Ausführungen die Ressourcenorientierung finden: Das kommunale Jobcenter Kreis Warendorf folgt in seinem Aktivierungsgeschäft dem Grundsatz, vorrangig nicht defizitorientiert vorzugehen, sondern Stärken zu stärken – idealerweise mithilfe intrinsischer Motivation. Daher orientieren wir uns im ANNA-Projekt am Ansatz von Lüttringhaus. Danach gilt es, Unterstützungssettings zu schaffen, die so viel wie möglich lebensweltnahe Ressourcen und so wenig wie nötig professionelle Ressourcen beinhalten. Hierfür unterteilt Lüttringhaus in vier Ressourcenfelder: Der erste Blick geht immer zu den Ressourcen der Klienten; dann im Weiteren geht der Blick  auf die Ressourcen des sozialen Umfeldes (Freunde, Bekannte, erweiterte Familie…), dann auf die Sozialraumebene (z.B. Sportvereine, Kirchengemeinden, Familienbildungsstätten) und erst in einem letzten Schritt auf die staatliche Unterstützungsebene (vgl. hierzu Lüttringhaus, Fachkonzept Sozialraumorientierung: Grundlagen und Methoden der fallunspezifischen und fallübergreifenden Arbeit). Dieser Ansatz findet deswegen in unserem Jobcenter großen Anklang, weil er das – abstrakte –  Subsidiaritätsprinzip sehr konkret widerspiegelt. Der Ansatz, Probleme nach Möglichkeit vor Ort und individuell zu lösen und erst in die nächste Ebene zu gehen, wenn eine Problemlösung sonst nicht möglich ist, verbindet im hohen Maße die Prinzipien der Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmtheit mit dem der Wirtschaftlichkeit und spielt damit zu Recht in unserem Staatsgefüge eine wesentliche Rolle.

In der konkreten Projektumsetzung bedeutet dies, dass Coaches und Teilnehmende immer intensiver in der Handlungsabfolge Bedarfsgemeinschaft, Umfeld, Sozialraum, Institution denken. Dies soll zu einer zunehmenden Verschiebung von den Ressourcen Staat und Wohlfahrt zu den Ressourcen Bedarfsgemeinschaft und erweitertes Umfeld führen. Dabei wurde bereits bei Projektkonzipierung vermutet, dass der Ressource 2 – also dem Umfeld – eine besondere Bedeutung zukommt. Daher war es Teil unserer Projektidee, möglichst vielen Bedarfsgemeinschaften Paten an die Seite zu stellen, die bestenfalls als Türöffner für soziale Teilhabe und Integration in Arbeit dienen können. Allerdings konnten im bisherigen Projektverlauf lediglich 5 offizielle Patenschaften vermittelt werden.

Evaluation

Zentrale Ergebnisse 1. Datenerhebung - Quelle: Kreis Warendorf

ANNA wird wissenschaftlich begleitet. In einer ersten Datenerhebung haben wir uns angeschaut, wie stark die Ressourcen der ANNA-Teilnehmenden nach deren Wahrnehmung auf den vier Ebenen ausgeprägt sind. Die zentralen Ergebnisse finden sich in der Abbildung wieder. Dabei ist allerdings der Corona-Effekt zu berücksichtigen. Er wird etwa an der Aussage vieler Befragter deutlich, in ihren Sozialräumen würden nur wenige Freizeit- und Bildungsangebote vorgehalten. Auch bei Ressource 2 mag der Corona-Effekt eine Rolle gespielt haben; jedenfalls ist das Ergebnis der Befragung ernüchternd: Eine sehr deutliche Mehrheit gab an, im Freundes- und Bekanntenkreis kaum Personen zu haben, die bei einer Bewerbung helfen oder bei der Betreuung der Kinder unterstützen können oder auch einfach nur ein offenes Ohr für Probleme haben. Dieses – tatsächliche oder gefühlte – Defizit in der Ressource 2 macht insbesondere dann betroffen, wenn man für sich persönlich reflektiert, wie viele Herausforderungen wir mithilfe der Ressource 2 meistern. Man denke nur an Fahrgemeinschaften bei den Freizeitaktivitäten der Kinder oder gut gefüllte Kontaktdaten, um von einem Bekannten eine erste Einschätzung zu einer speziellen Thematik zu hören. Da bei der ersten ANNA-Erhebung lediglich die Teilnehmenden befragt wurden, wurde kürzlich eine größere Stichprobe wiederholt, die repräsentativ für die (Allein)Erziehenden-Bedarfsgemeinschaften im Kreis Warendorf ist. Dabei wird folgende Hypothese getestet: „Die Anzahl an wahrgenommenen Freizeitaktivitäten korreliert positiv mit den Ressourcen im engen Umfeld“.

Schlussfolgerungen zur Ressource 2
Als eine erste Schlussfolgerung haben wir entschieden, das enge Umfeld gezielt zu stärken. Hierzu werden bereits folgende Ansätze verfolgt:

Dr. Ansgar Seidel, Jobcenterleiter:
„Es ist leichter, Kinder und Jugendliche auf den Fußballplatz oder zum Tanzen zu kriegen als zu Shakespeare.“

  •  Soziokulturelle Teilhabe ist unser BuT-Schwerpunkt im Jahr 2022; um möglichst viele junge Menschen zu erreichen, liegt unser Hauptaugenmerk auf dem Bereich des Sports, denn es ist in der Regel leichter, Kinder und Jugendliche auf den Fußballplatz oder zum Tanzen zu kriegen als zu Shakespeare. Die Verpflichtung, aus dem BuT-Paket insbesondere die Lernförderung und die soziokulturelle Teilhabe zu bewerben, nimmt unser Jobcenter als ANNA-Ergebnis bereits standardisiert in jedes Leistungsverzeichnis für Maßnahmeträger auf.
  • Im Rahmen des ANNA-Projektes wurden in beiden Sozialräumen Stammtische der Teilnehmenden gegründet, die sukzessive auf Dritte erweitert werden und aus denen sich die Institutionsebene langsam zurückzieht.
  • Wir werden Gruppenelemente in vielen Jobcenter-Maßnahmen festigen - z.B. durch verstärktes Gruppencoaching; auch die Gründung gemeinsamer Social-Media-Gruppen der Teilnehmenden wird angeregt; außerdem prüfen wir künftig immer, bei welchen Maßnahmen eine Verpflichtung des Trägers zur Nachbetreuung sinnvoll ist.


Gruppentag ANNA. - Quelle: Kreis Warendorf

Zitat Brigitte Klausmeier, Sozialdezernentin Kreis Warendorf:
„Da viele Menschen offizielle Patenschaften scheuen, streben wir inoffizielle Patenschaften durch soziale Teilhabe an“. 

Zudem beteiligt sich das kommunale Jobcenter Kreis Warendorf an der ersten Förderwelle des ESF-Projekts „Chance“. Dabei geht es darum, die Corona-bedingten Folgen für Familien im SGB II-Leistungsbezug abzumildern und ihnen durch innovative Ansätze einen Weg in Beschäftigung zu eröffnen. Hier hat das MAGS die Wege zu diesem Ziel so offen ausgestaltet, dass unser Jobcenter viele ANNA-Ansätze weiterverfolgen kann. Mithilfe des vom Fördergeber bereit gestellten Innovationstopfes sollen soziokulturelle Aktivitäten für die Eltern – gerne gemeinsam mit ihren Kindern – möglich gemacht werden. Hiervon versprechen wir uns auch, dass soziokulturelle Teilhabe zu inoffiziellen Patenschaften führt. Denn viele Menschen scheuen zwar den Aufwand einer offiziellen Patenschaft, die meisten von uns stehen aber gerne Vereinskollegen und Bekannten mit Rat und häufig auch mit Tat zur Seite. 

Fazit
Zunächst ist festzustellen, dass das ANNA-Projekt in der konkreten Unterstützung sehr erfolgreich ist. Obwohl natürlich in der Corona-Lage erschwerte Rahmenbedingungen gerade für (Allein)Erziehende gelten, wurden 19 Arbeits- und Ausbildungsaufnahmen und 8 Ausweitungen bestehender Tätigkeiten initiiert. Zudem sind 11 neue Minijobs, 10 Praktika, 2 schulische Qualifikationen sowie 2 Weiterbildungen zu verzeichnen. Auch die Inanspruchnahme der BuT-Leistungen haben wir deutlich gesteigert. So lässt sich abschließend als „Binsenweisheit“ festhalten, dass ein guter Betreuungsschlüssel zu guten Ergebnissen führt und ein tiefes Eintauchen in den Sozialraum individuelle Ressourcen schafft, die Selbstbestimmtheit steigert und gleichzeitig den Staat entlastet.


Dr. Ansgar Seidel
Quelle: Kreis Warendorf