Aus der Geschichte für den Frieden lernen – Bildungspartnerschaft zwischen Grundschule, Kreisarchiv und dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge
Grundschulen können zur Förderung von Demokratie und zur Vermittlung von Erinnerungskultur Bildungspartnerschaften mit Gedenkstätten als außerschulische Lernorte nutzen. Wichtig ist hierbei eine kindgerechte didaktische Aufarbeitung historischer Dokumente. Dass Erinnern für die Zukunft auch schon in der Grundschule funktioniert, beweist die erste Bildungspartnerschaft im Rahmen der Landesinitiative „Bildungspartner NRW – Gedenkstätte und Schule“ zwischen der Regenbogenschule in Halver (bis 2018 Grundschule Oberbrügge), dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge NRW (VDK) und dem Kreisarchiv des Märkischen Kreises. Sie besteht seit 2016.
„Verena Effgen hat uns alle überzeugt und unsere anfänglichen Bedenken zerstreut“ erinnerte sich der (mittlerweile pensionierte) Schulleiter Bernd Rietschel bei der Vertragsverlängerung im Juni 2018 an den Beginn der Bildungspartnerschaft. Die Bildungsreferentin beim Volksbund NRW hatte die Kooperation angeregt, weil sie als ehemalige Schülerin die Besonderheit des Standortes kannte: In unmittelbarer Nähe zur Schule gibt es nämlich ein Kriegsmahnmal und auf dem nur 300 Meter entfernten evangelischen Friedhof Gedenkstätten für fünf sowjetrussische Zwangsarbeiter sowie für sechs deutsche Soldaten, die kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges getötet wurden. Insgesamt liegen im Stadtgebiet von Halver 31 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie zehn Kinder bestattet; bei einer Einwohnerzahl von knapp 9.000 Personen waren im letzten Kriegsjahr 1.800 Verschleppte überwiegend in der Landwirtschaft und der heimischen eisen- und metallverarbeitenden Industrie eingesetzt.
Tausende Dokumente erzählen tausende Schicksale
Zur Erforschung der Geschichte des außerschulischen Lernortes und den Lebenswegen der dort begrabenen Menschen, der Umstände ihres Todes und dem heutigen Umgang mit diesem historischen Erbe nahm Effgen Kontakt zum Kreisarchiv des Märkischen Kreises auf. Hier sind Daten – Namenslisten, Melde- und Arbeitskarten sowie Berichte an die ehemaligen Landratsämter Altena und Iserlohn – von mehr als 14.000 ehemaligen Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern und zivilen Ostarbeitern abrufbar. Die außergewöhnliche Materialfülle resultiert u. a. auf Befragungen früherer Zwangsarbeiter, die sich seit Ende der 1990er-Jahre im Vorfeld der Debatten im Bundestag über die Gründung der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" an den Märkischen Kreis gewandt hatten. Daraufhin fragte das Kreisarchiv die in den Stadt- und Gemeindearchiven des Märkischen Kreises vorhandenen Daten ab und trug sie in einer Datenbank zusammen. Als eines der ersten Institutionen präsentierte das Kreisarchiv 2001 eine viel beachtete und diskutierte Wanderausstellung mit dem Titel „‚...und nach Hause, in die Ukraine, kam ich 1950...‘ – Geschichte der Zwangsarbeit im Märkischen Kreis“ und veröffentlicht eine gleichnamige Publikation.
Titelbild des Ausstellungskatalogs zur Zwangsarbeit im Märkischen Kreis
Quelle: Kreisarchiv Märkischer Kreis
Archivausstellungen sind in vielen Kommunalarchiven ein fester Bestandteil der Öffentlichkeitsarbeit, ihre Zielgruppe sind in der Regel interessierte Erwachsene und Schüler ab der Sekundarstufe I. Das Thema Zwangsarbeit und Kriegsgräber Grundschülerinnen und Schülern kindgerecht zu vermitteln, war für das Kreisarchiv des Märkischen Kreises somit eine archivpädagogische Herausforderung. Dass diese Herausforderung erfolgreich gemeistert werden kann, beweisen die Unterrichtsbesuche, in denen Diplomarchivar Ulrich Biroth seither jeweils die vierten Klassen mit anschaulichen Exponaten und Dokumenten in das Thema Zwangsarbeit in Halver und Umgebung einführt. Er hatte seinerzeit die Wanderausstellung und den Katalog konzepiert und kann deshalb eine Fülle anschaulicher und feinfühliger Archivalien zusammestellen Was waren das für Menschen, die damals in der Volmestadt gelebt und gearbeitet haben? Wurden sie hierhin verschleppt oder kamen sie freiwillig, und wenn ja, was waren die Gründe, warum sie fern ihrer Heimat Arbeit suchen mussten? Wurden alle Fremdarbeiter schlecht behandelt, oder gab es auch Arbeitgeber und Arbeitskollegen, die sich über Fraternisierungsverbote und Strafandrohungen hinwegsetzten? Unter Enge und Heimweh litten vor allem 13-14jährige Kinder, die 10 Stunden am Tag arbeiteten mussten und sich nur am Sonntag ausruhen durften - welches Kind kann sich so ein Leben heute vorstellen?
Fotos aus dem Kreisarchiv dokumentieren den Alltag von Zwangsarbeitern
Quelle: Ulla Erkens, Märkischer Kreis
Mit großformatigen Fotos veranschaulicht der Kreisarchivar die Bedingungen, unter denen erwachsene „Ostarbeiter" 14 Stunden Schwerstarbeit leisten mussten - und dabei gerade so viel am Tag zu essen bekamen, wie die Schüler es in der ersten Pause verputzen. „Wieviel Geld hatten die denn zum Einkaufen?" lautet eine der meistgestellten Fragen der Schüler. Die Rückfrage „Glaubt ihr denn, Zwangsarbeiter wären bezahlt worden?" bringt die kleinen Geschichtsforscher ebenso zum Nachdenken, wie Schilderungen der Wohnbedingungen im umzäunten Barackenlager oder der eingeschränkten Freizeitaktivitäten. Ungläubig staunend lernen sie, dass Zwangs- und Zivilarbeiter nicht Fahrrad fahren oder ins Kino gehen durften, dass, wer bei der Arbeit bummelte oder mit Absicht etwas nicht richtig machte, bestraft wurde. Dass Russen sogar ein Abzeichen auf ihre Kleidung nähen mussten, um schon von weitem erkennbar zu sein, und kein Deutscher mit ihnen ein Bier in der Dorfkneipe trinken durfte, weil gesellige Kontakte verboten waren.
Impressionen von Arbeit und Freizeit von Ostarbeitern in Altena. Sind die Bildaussagen der Fotos glaubwürdig?
Quelle: Kreisarchiv MK
Fast die Hälfte der Oberbrügger Grundschüler kommt aus Aussiedler- oder ausländischen Familien. Der Hinweis auf die damalige Stigmatisierung von „Fremden" stellt somit auch aktuelle Bezüge zu Flucht, Vertreibung, Migration und Integration her. Vor allem aber regt das Projekt zu Gesprächen über den Zweiten Weltkrieg in den Familien und mit eventuell noch lebenden Zeitzeugen an.
Mitanpacken für Frieden und Verständigung
„Wenn Geschichte sich in der eignen Familiengeschichte und dem eigenen Umfeld spiegelt; wenn Erinnerungen von Generation zu Generation weitergetragen werden; kurz wenn Geschichte nicht abstrakt bleibt, sondern Gesichter und Namen bekommt, dann hat die Bildungspartnerschaft viel bewegt“ freut sich Kreishistorikerin Dr. Christiane Todrowski über die vielfältigen Unterrichtseinheiten, in denen die Regenbogenschule das Thema aufarbeitet. Ein buchstäblich greifbarer Ansatz ist die Herstellung von Gedenkziegeln. Die Kinder beschriften Tonscheiben mit Namen von Zwangsarbeitern oder von mit falschen Versprechen angelockten Zivilarbeitern, und pressen sie mit einem Nudelholz in vorgefertigte Formen, die anschließend gebrannt werden. Hierzu angeregt wurden sie nicht allein durch Quellen aus dem Kreisarchiv, sondern auch von einer Zeitzeugin. Die über 90 Jahre Großmutter einer Schülerin hatte Fotos von Nina und Iwan mit in den Unterricht gebracht und erzählte von ihren Erinnerungen an das Schicksal der beiden Zwangsarbeiter und die damalige Zeit.
Unterrichtsstunde mit der VDK-Bildungsreferentin auf dem Friedhof
Quelle: Ulla Erkens, Märkischer Kreis
Die Ziegel wurden 2018 als Kunstwerk am Volkstrauertag am Mahnmal niedergelegt. Im Jahr davor waren bunt bemalte Handabdruck gesetzt worden - symbolische Handlungen, die den Kindern wichtig sind, weil sie hierdurch den Eindruck gewinnen, etwas aktiv für den Frieden getan zu haben. Mitanpacken ist in der Regenbogenschule auch gefragt, wenn es um die Grabpflege der Kriegsopfer geht. Die jeweils dritten Klassen befreien die Gräber von Unkraut und pflanzen Stauden, gleichgültig, ob es sich hierbei um das Grab einer ukrainischen Zwangsarbeiterin, eines russischen Kriegsgefangenen oder eines kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs gefallen deutschen Soldaten handelt. „Im Tod sind alle gleich", lautet die Botschaft, die das Kreisarchiv, die Grundschule und der VDK mit ihrer Bildungspartnerschaft vermitteln wollen. Erziehung zu Demokratie und Frieden wird auch im Religionsunterricht thematisiert, wenn der Holocaust oder die Entstehung von Gewalt und Rassismus behandelt werden.
2017 durfte sich die Obberbrügger Grundschule über den Besuch der damaligen Schulministerin Sylvia Löhrmann freuen. Zusammen mit Landrat Thomas Gemke besuchte sie eine Unterrichtsstunde des Kreisarchivs und legte nach der anschließenden Gedenkfeier zusammen mit Schulkindern Blumen am Mahnmal nieder.
Ex-Schulministerin Sylvia Löhrmann legte 2017 am „Internationalen Tag gegen Rassismus“ (21. März) Blumen am Kriegsmahnmal nieder.
Quelle: Ulla Erkens, Märkischer Kreis
Nachhaltigkeit und Lernerffekt
Die Bepflanzung und Pflege der Kriegsopfergräber hat in Halver-Oberbrügge dazu beigetragen, eine alte Tradition wiederbeleben: Die Dorfgemeinschaft, die Feuerwehr und der Männergesangsverein gestalten seither wieder – jetzt aber zusammen mit der Grundschule – die Feierstunde zum Volkstrauertag – oder „Friedenssonntag“, wie die Schule ihn lieber nennt.
Die Lehrerschaft der Regenbogenschule hat erfolgreich unter Beweis gestellt, dass die Themen Krieg, Nationalsozialismus, Rassismus und Frieden nicht nur über reines Wissen, sondern auch über soziale, emotionale und praktische Inhalte vermittelt werden können. Die anfänglichen Bedenken verflüchtigten sich durch die Praxiserkenntnis. Dass Menschen durch kriegsbedingte Umstände in einem fremden Land gestorben sind und die Familien sich nicht kümmern konnten, regt Schüler zu einer emotionalen Auseinandersetzung und Reflektion ihrer eigenen Familiengeschichte an.
Und wie lautet die Zwischenbilanz des Kreisarchivs des Märkischen Kreises? Wir lernen auch – an und mit den Grundschülerinnen und -schülern. Dass ein mit Roggenschrot, Sägemehl und Rübenschnitzel gestrecktes „Russenbrot“ nicht in Form süßer Buchstabenkekse verteilt wurde, muss ebenso erklärt werden wie die Tatsache, dass die Erinnerungen von Zwangsarbeitern nicht „Geschichten“, sondern Ereignisse aus der „Geschichte“ sind. Und wir freuen uns, den Oberbrügger Schulkindern zeigen zu können, was eine „Baracke“ war – beweist die Unkenntnis doch die Aussage von Landrat Thomas Gemke: „Wir sind eine glückliche Generation. Eine Generation, die Krieg, Not und Elend nie selbst erfahren musste.“
Dr. Christiane Todrowski
Quelle: Märkischer Kreis