Abmilderung des Fachkräftemangels durch Qualifizierungen

28. Juni 2024: Von Dr. Ansgar Seidel, Vorstandssprecher des Caritasverbandes im Kreisdekanat Warendorf. und Phanmika Sua-Ngam-Iam, Organisationssoziologin im Jocenter, Kreis Warendorf

Die Qualifizierung von Bürgergeldbeziehenden zu Fachkräften ist von herausragender Bedeutung, weil es den Fachkräftemangel mildert, die Sozialetats entlastet und dem Menschen eine dauerhafte Perspektive bietet. Das Instrumentarium ist jedoch auch zeit- und kostenintensiv und führt häufig nicht zu den gewünschten Ergebnissen. So fanden im Jahr 2023 bundesweit nur ca. 30 % der Bürgergeldbeziehenden, die eine Qualifizierungsmaßnahme besucht haben, Arbeit. Zu Beginn der Untersuchungen lag die Quote im Jobcenter Kreis Warendorf ebenfalls bei ca. 30 %, mittlerweile bei 49 %.[2] Das Jobcenter Kreis Warendorf beschäftigt sich systematisch damit, diese Quote zu steigern.

Der Fachkräftemangel ist neben Bürokratie und Energiekosten einer der größten Hemmschuhe für das Wirtschaftswachstum.[3] Wenig überrascht daher das politische Ziel, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, das sich z.B. in der Fachkräfteoffensive des Landes Nordrhein-Westfalens (2023)[4] oder in der Fachkräftestrategie der Bundesregierung (2022)[5] widerspiegelt.

Grundlagen im SGB II und Umsetzung im Jobcenter Kreis Warendorf
Etwa 57 % aller gemeldeten offenen Stellen sind Fachkräftestellen (vgl. ca. 20 % Hilfskräftestellen).[6] Die vielschichtige Herausforderung des Fachkräftemangels kann natürlich nicht alleine durch die Jobcenter bewältigt werden. Dennoch gibt es gewichtige Gründe, wieso die Jobcenter zu dessen Abmilderung beitragen können und sogar müssen.
Für das Bürgergeld sind im Bundeshaushalt 2024 ca. 24 Mrd. € (Haushalt des Kreises Warendorf ca. 140 Mio. €) vorgesehen.[7] Damit stellt es mit den größten Posten im Sozialetat dar. Gleichzeitig ist der Fachkräftemangel mit enormen jährlichen Kosten für die deutsche Wirtschaft verbunden (über 90 Mrd. € in 2023).[8] Eine mangelnde berufliche Qualifizierung erschwert zudem die nachhaltige Integration von Menschen, was zu einer Einschränkung ihrer gesellschaftlichen Teilhabe führen kann. 
Die Qualifizierung und Integration von Bürgergeldbeziehenden in eine Fachtätigkeit kann daher als „Triple-Win“ bezeichnet werden: Der Bundeshaushalt wird entlastet. Die Wirtschaft wird gefördert und durch erweiterte Teilhabe wird optimalerweise der gesellschaftliche Zusammenhalt unterstützt.
Die politische Strategie gegen den Fachkräftemangel hat sich stetig verändert. Vor Einführung des Bürgergeldgesetzes bestimmte der Vermittlungsvorrang die Integrationsarbeit in den Jobcentern. Mit Einführung des Bürgergeldgesetzes in 2023 wurde die Qualifizierung der Vermittlung gleichgestellt. Nachdem nun Job-Turbo und Vermittlungsoffensive im Januar 2024 gestartet sind[9], wird die Vermittlung wieder priorisiert. Auch der monetäre Anreiz „für Weiterbildungen, die nicht auf einen Berufsabschluss abzielen“[10], wurde durch die Abschaffung des Bürgergeldbonus in 2024 aufgehoben.
Das Jobcenter Kreis Warendorf misst sowohl dem Job-Turbo als auch der Vermittlungsoffensive eine hohe Bedeutung bei. Gleichzeitig verfolgt es – im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben – eine konsistente und relativ konstante Fachkräfte-Strategie. Im Jobcenter Kreis Warendorf wurden bereits seit 2021 Qualifizierung und Vermittlung gleichrangig behandelt. Auch mit Umsetzung der Vermittlungsoffensive wurden parallel weiterhin Qualifizierungen beworben, wenn diese als besonders erfolgsversprechend identifiziert wurden.

Was bisher geschah
2021 wurden insg. 232 Qualifizierungen initiiert. Um diese Zahl zu steigern, wurden 2022 zusätzlich zu den bestehenden Integrationsfachkräften zwei auf Qualifizierungsberatung spezialisierte Fachkräfte eingesetzt. Die Zahl der Qualifizierungseintritte konnte u.a. so in 2022 auf 255 angehoben werden. Auch wurden gezielt Qualifizierungen für Mangelberufe im Busfahr- und Pflegepersonal beworben.
Ziel in 2023 war es zunächst, die Zahl von 2022 zu steigern. Hierfür wurde die Zahl der auf Qualifizierung spezialisierten Fachkräfte erhöht. Zudem stellt das Jobcenter seit 2023 die Gewinnung neuer Erkenntnisse zu Qualifizierungen in den Fokus. Anfängliche Untersuchungen zeigten, dass nur ca. 30 % der Leistungsberechtigten im Jobcenter Kreis Warendorf, die nach bestandener Prüfung eine Qualifizierung beendet haben, danach integriert wurden. Obwohl diese Quote ähnlich zu Zahlen auf Landes- und Bundesebene ist, strebte das Jobcenter ihre deutliche Steigerung an. Qualifizierungen sind zeit- und kostenintensiv. Dennoch ist gerade hier eine Steigerung der Integrationszahlen insb. hinsichtlich der Arbeitsmarktchancen und des Fachkräftemangels sinnvoll. Aufgrund gesunkener finanzieller Mittel aber auch, weil das Jobcenter die Quote als zu gering empfand, wurde die strategische Ausrichtung angepasst, sodass nicht mehr eine aktive Steigerung der Eintrittszahlen angestrebt wurde, sondern vielmehr die Qualitätsverbesserung der Qualifizierungsarbeit. 2023 wurden so insg. 265 Qualifizierungen angestoßen. Folgende Instrumente wurden zur Optimierung der Qualifizierungsarbeit im Jobcenter Kreis Warendorf genutzt:

  • Regelmäßige Austauschtreffen
  • Internes Controlling (u.a. Anzahl Eintritte & geplanter, (nicht) bestandener Prüfungen & Abbruchsgründe)
  • Prozesserfassung & -optimierung durch:

1.    Softwaregestützte Prozesserfassung
Die Beratung, Umsetzung, Begleitung und Evaluation von Qualifizierungen gliedert sich in viele verschiedene Prozessschritte. Um diese optimieren zu können, hat das Jobcenter Kreis Warendorf eine Arbeitsgruppe gebildet, die die Prozessschritte zunächst softwaregestützt erfasst und anschließend optimiert hat. Der erste Schritt bestand darin, den aktuellen Ist-Zustand des Qualifizierungsprozesses zu dokumentieren und softwaregestützt in Form eines Ablaufdiagramms zu visualisieren. Anschließend wurde der Ist-Zustand durch die AG reflektiert und reibungsanfällige Stellen im Prozess wurden so identifiziert. Auf dieser Basis wurde in einem dritten Schritt der Soll-Prozess und die dazugehörigen Dokumente wie Arbeitshilfen und Checklisten erarbeitet und im Anschluss im Jobcenter implementiert.

2.    User Journey
Die User Journey[11] hilft, die Perspektive der Leistungsberechtigten zu verstehen, indem sie einen umfassenden Blick auf den Qualifizierungsprozess wirft. Dieses Tool wurde im Jobcenter bereits im Projekt „ANNA – (Allein-)Erziehende und ihren Nachwuchs Nachhaltig Aktivieren“[12] zur Erkenntnisgewinnung genutzt. Bei der Analyse von 57 Qualifizierungsfällen wurde festgestellt, dass mehr als die Hälfte der Teilnehmenden ihre Qualifizierung abbrechen und nur wenige nach Abschluss eine Arbeit aufnehmen. Häufige Abbruchgründe waren unzureichende Sprachkenntnisse, mangelnde Motivation und gesundheitliche Probleme. Zudem wurde in vielen Fällen keine vorherige Eignungsprüfung durchgeführt. Obwohl teils ein hoher Unterstützungsbedarf da war, mangelte es häufig an der engen Begleitung der Teilnehmenden während der Qualifizierung.

3.    Qualitative Kundenbefragung
Nachdem zunächst intern auf die Arbeitsprozesse bezüglich Qualifizierungen geschaut (softwaregestützte Prozesserfassung) und anschließend der Fokus auf die Perspektive der Leistungsberechtigten gerichtet wurde (User Journey), wurde nun mithilfe der qualitativen Kundenbefragung der direkte Austausch mit Teilnehmenden gesucht, um durch ihre Brille die Qualifizierungsarbeit im Jobcenter zu betrachten und diese dadurch zu optimieren. Hierzu wurden von allen Leistungsberechtigten, die eine Qualifizierung absolvieren bzw. absolviert haben, eine zufällige Stichprobe aus 35 Leistungsberechtigten gezogen. Das Jobcenter fragte dabei nach Gründen für die Aufnahme einer Qualifizierung, Herausforderungen währenddessen, allgemeine und spezifische Unterstützungsbedarfe und Faktoren für den Erfolg. Besonders aufschlussreich waren die beschriebenen Herausforderungen wie fehlende Passung zwischen Qualifizierung und persönlichen Bedürfnissen, gesundheitliche Voraussetzungen und Unstimmigkeiten in der Betreuung.

Ausrichtung in 2024
Basierend auf den Untersuchungsergebnissen konnte das Jobcenter Kreis Warendorf die Quote der Leistungsberechtigten, die nach bestandener Prüfung und beendeter Qualifizierung Arbeit fanden, von rd. 30 % auf 49 % erhöhen. In 2024 liegt der Fokus darauf, diese Quote weiter zu erhöhen. Hierzu konnten folgende Erkenntnisse gewonnen und Handlungsfelder identifiziert werden:

  • Leistungsbeziehende nehmen Beratungstermine im Rahmen des Absolventenmanagements häufig nicht wahr
  • Durch präzisere Eignungsbeurteilungen (z.B. Sprachkenntnisse, fachliche Eignung, gesundheitliche Voraussetzungen)
  • & engere Begleitung während der Qualifizierung (z.B. enger Austausch Jobcenter – Weiterbildungsträger – Leistungsberechtigte & ggf. sozialpädagogische Begleitung) könnten Abbrüche vermieden werden
    • Fokussierung Maßnahme-Management
    • Maßnahme zur Begleitung von Leistungsberechtigten während der Qualifizierung

Zuständigkeitsverlagerung von Qualifizierungen
Ab 2025 wird „die Zuständigkeit für Beratung, Bewilligung und Finanzierung für die Förderung beruflicher Weiterbildung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten […] von den Jobcentern auf die Agenturen für Arbeit übertragen.“[13] Angesichts dieser geplanten Änderungen wird es umso wichtiger sein, die behördlichen Prozesse rund um Qualifizierungen sowie die Perspektive und Bedarfe der Leistungsberechtigten zu durchdringen, um den oben beschriebenen Triple-Win-Effekt (Fachkräftegewinnung, Entlastung des Bundeshaushalts, Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts) zu erreichen.

Fazit
Qualifizierungen sind trotz hoher Zeit- und Kostenintensität wichtig, da sie zu einer nachhaltigen Integration beitragen, den Fachkräftemangel abmildern, den Bundeshaushalt entlasten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Wenig erstaunt das Fazit, dass Quantität und Qualität nicht gleichzusetzen sind, letztere aber durch eine systematische Aufgliederung von Prozessen und kontinuierliche Nachjustierung gesteigert werden kann. Dies ist insb. da erforderlich, wo es – wie bei Qualifizierungen – viele Schnittstellen gibt. Dieser Aspekt wird bei der geteilten Zuständigkeit für Qualifizierungen im SGB II ab 2025 zwischen Jobcenter und Agentur für Arbeit sicherlich nicht an Bedeutung verlieren.

"Eine erfolgreiche Qualifizierung ist ein Triple-Win, weil sie Bundesfinanzen, Wirtschaft und gesellschaftliche Teilhabe gleichzeitig stärkt." Dr. Ansgar Seidel

Zitat Beier: Wichtige Faktoren für den erfolgreichen Abschluss der Qualifizierung sind die Passung zwischen Teilnehmenden und Qualifizierung und die enge Begleitung währenddessen. 

"Indem die Qualität der Qualifizierungsarbeit verbessert wird, kann die Quantität der Integrationen nach abgeschlossener Qualifizierung erhöht werden." Phanmika Sua-Ngam-Iam

Dr. Ansgar Seidel
Quelle: Kreis Warendorf
Phanmika Sua-Ngam-Iam



[1] Interne statistische Auswertung des Jobcenters Kreis Warendorf
[2] Wirtschaft: Drei Szenarien für die Zukunft der deutschen Industrie (handelsblatt.com)
[3] Fachkräfteoffensive: Auftaktveranstaltung der Landesregierung | Mit Menschen für Menschen. (mags.nrw)
[4] Fachkräftestrategie der Bundesregierung | Bundesregierung
[5] Einzelausgaben - Statistik der Bundesagentur für Arbeit (arbeitsagentur.de)
[6] Deutscher Bundestag - Arbeits- und Sozialetat wächst auf 171 Milliarden Euro
[7] Fachkräfteengpässe gefährden Erfolg in wichtigen Schlüsseltechnologien (dihk.de)
[8] BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Infothek - Mit dem neuen Job-Berufssprachkurs schneller in den Arbeitsmarkt & Nordrhein-Westfalen setzt auf engere Betreuung und gezieltere Vermittlung in Ausbildung und Arbeit | Land.NRW
[9] Fragen und Antworten zum Bürgergeld | Bundesregierung
[10] Vgl. Customer-Journey-Prozess: Customer-Journey-Prozess • Definition | Gabler Wirtschaftslexikon
[11] Das ANNA-Projekt des Jobcenters Kreis Warendorf und die Ressource 2 | Landkreistag NRW* (lkt-nrw.de)
[12] https://dserver.bundestag.de/btd/20/097/2009792.pdf